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Archiv-Artikel

Konkret ist nur der erste Platz

Mit einem 1 : 0-Arbeitssieg gegen Borussia Mönchengladbach erklimmt der HSV die Tabellenspitze der Fußball-Bundesliga. Spielerisch sieht aber nicht nur Trainer Martin Jol noch reichlich Luft nach oben

Rafael van der Vaart tut, was er am besten kann: Tore schießen, vor einer Woche gleich drei in einem Spiel – im fernen Spanien. Aber in Hamburg ist er immer noch beunruhigend präsent. HSV-Trainer Martin Jol selbst brachte nach dem mühsamen 1 : 0 seiner Mannschaft gegen Borussia Mönchengladbach ungefragt das Gespräch darauf: „Ohne van der Vaart ist es sehr schwer“, sagte der Coach. Und dennoch: „Ich habe zu dem Thiago nicht gesagt: Mach, was van der Vaart gemacht hat.“

Das wäre womöglich auch vergeblich gewesen: der Brasilianer Thiago Neves ist ein völlig anderer Spielertyp. Statt den Spitzen in den Hacken zu stehen, hat er das Spiel lieber vor sich. Gegen Mönchengladbach holte er sich Bälle tief in der eigenen Hälfte, um von dort seine große Stärke auszuspielen: lange, präzise Pässe in die Spitze. Von überall auf dem Platz schien Neves signalisieren zu wollen: Seht, ich bin anspielbar! Das führte dazu, dass er bisweilen regelrecht über das Spielfeld irrlichterte und die Lücken zwischen Mittelfeld und den beiden Stürmern Olic und Petric gewaltig wurden.

Kein Zufall, dass Neves’ Zuarbeit nach einem ruhenden Ball zum Erfolg führte: Seinen langen Freistoß machte Gladbachs Patrick Paauwe noch ein bisschen länger und Mladen Petric stand perfekt, um zum 1 : 0 einzuköpfen (11.). Der Kroate, ebenfalls neu in Hamburg, hat offenbar überhaupt keine Eingewöhnungsprobleme: „Er hat den Unterschied gemacht“, würdigte Trainer Jol seinen agilen Stürmer. Man habe ihm vorher gesagt, dass Petric „ein wenig faul“ sei, aber im Gegenteil: „Er hat etwas extra, eine Portion Pfeffer im Hintern.“

Über Spielgestalter Neves könnte man ähnliches sagen, aber Jol schien mit zunehmender Spieldauer immer weniger zufrieden. Gegen die extrem defensiv eingestellten Gladbacher ergaben sich nach der Führung einfach keine Möglichkeiten mehr. Eine Viertelstunde nach der Pause musste Neves Jonathan Pitroipa Platz machen, sozusagen seiner Antithese: Hier der Stratege, dort das quirlige Leichtgewicht. Pitroipa gehört zu jenem Kollektiv, das das schwere Erbe van der Vaarts beim HSV schultern soll. Wie dieser liebt er es, neben, hinter oder zwischen den Spitzen zu wirbeln, aber es fehlt ihm noch an Zweikampfhärte und Torjägerinstinkt.

Lange brauchte die Borussia, um ihre Chance zu wittern: Erst 20 Minuten vor Schluss durfte ihr bester Stürmer Marko Marin ran, der den HSV mit einem Heber auf die Latte erschreckte und in der letzten Minute mit einer feinen Flanke die Möglichkeit zum Ausgleich eröffnete.

Am Ende war Martin Jol dankbar. Dafür, dass es noch zum Sieg gereicht hatte und „dass wir da oben stehen“. Denn was fast in Vergessenheit geraten wäre: Der HSV ist jetzt Tabellenführer. Jol weiß aber auch, dass von ihm mehr erwartet wird: Er soll Erfolg bringen, und es soll auch noch gut aussehen. Deshalb versucht er, der vier Last-Minute-Einkäufe im laufenden Betrieb integrieren muss, Zeit zu gewinnen: „Wir brauchen Flair, wir brauchen Dribblings und wir haben das im Team“, sagte er – „es ist nur noch nicht konkret“. Sicherheitshalber ließ Jol noch eine Spitze gegen seinen Vorgänger los: „Vielleicht haben wir schon mehr Tore gemacht als letztes Jahr im Dezember.“ Jol wusste, dass das nicht stimmen kann. Dennoch: Seine Anspielung auf die durchlittene Tristesse erstickte jede Kritik im Keim. JAN KAHLCKE