: Kosmos einer urbanen Mittelklasse
Wer wollte, konnte mit der Buchmesse etwas über die türkische Literatur erfahren. Aber wie viel weiß man in der Türkei über deutsche Kultur?
Lange hat es gedauert, aber allmählich ist es angekommen: Von Tarkans Smashhits aus den späten Neunzigerjahren zu Fatih Akins „Crossing the Bridge“ (2005), von der Türkei-Sondernummer der Jungle World (2005) bis zum aktuellen Spiegel-Special, vom Nobelpreis für Orhan Pamuk (2006) bis zur ansehnlichen Menge der zur Buchmesse übersetzten türkischen Schriftsteller – die Türkei hat einiges zu bieten.
Lassen wir einmal den gönnerhaften Unterton beiseite, mit dem dieser Sachverhalt auch in diesen Tagen festgestellt wurde, und vergessen wir einmal die strafenden Bemerkungen an die Adresse der hiesigen Einwanderer, auf die so manche Würdigung türkischer Kultur nicht verzichten mag (dieses „Istanbul-ist-viel-aufregender-und-moderner-als-Köln-Nippes“, die feuilletonistische Variante von „Sonne-sehr-warm-in-Türkei“). Lassen wir das beiseite und fragen: Wie sieht es umgekehrt aus?
Popmüzik aus Almanya, das sind vor allem und immer wieder Kraftwerk und Rammstein. Bekannt ist auch das deutsche Kino; nicht nur ein Rainer Werner Fassbinder oder Wim Wenders, sondern auch neuere Produktionen. „Knallhart“ war ebenso im Kino wie „Das Leben der Anderen“ oder „Goodbye Lenin“, und dieser Tage läuft „Der Baader Meinhof Komplex“ an. Vorbehaltlich dessen, dass der Kinobesuch in der Türkei eher eine Sache des gebildeten, urbanen Publikum ist, kann man sagen: Ja, man weiß Bescheid.
Komplizierter verhält es sich mit der Literatur: „Ein türkischer Leser, zumindest ein türkischer Intellektueller, der einen jungen deutschsprachigen Autoren liest, kann diesen in einer von Goethe und Schiller bis zur Gegenwart reichenden literarischen Tradition einordnen. Dem deutschen Leser eines türkischen Romans fehlt aber ein vergleichbares Wissen“, meint Murathan Mungan. Als Romancier und Dichter ist er einer der erfolgreichsten Schriftsteller des Landes; sein Roman „Tschador“ aus dem Jahr 2004 ist soeben bei Blumenbar erschienen. Welchen deutschsprachigen Gegenwartsautor er zuletzt gelesen hat? Ingo Schultze, antwortet er nach einigem Überlegen.
„In der jüngeren Zeit waren Benjamin, Adorno oder Habermas, die erst seit rund 20 Jahren auf Türkisch erscheinen, bedeutender als Romane deutschsprachiger Autoren“, meint Fahri Güllüoglu, der selbst Peter Weiss ins Türkische übersetzt hat und als Lektor beim renommierten Yapi-Kredi-Verlag arbeitet, in dessen Angebot Thomas Mann, Ingeborg Bachmann, Robert Musil oder Hermann Hesse zu finden sind.
Ein besonderes Interesse an deutscher Literatur hingegen hege allein – ein angesichts der wachsenden Dominanz des Englischen immer kleiner werdender – germanophiler Kreis. Das Gleiche gelte auch für die einst in der Türkei einflussreichere französische Literatur. Infolgedessen würden die wenigen jüngeren, ins Türkische übersetzten deutschen Autoren, lediglich von einem Fachpublikum zur Kenntnis genommen.
Ausdruck eines selbstgenügsamen Provinzialismus der türkischen Gesellschaft? „Nicht unbedingt“, antwortet Tanil Bora, der beim großen linken Iletisim-Verlag, dem Verlag Orhan Pamuks, für die Sachbuchabteilung zuständig ist. Der bekannte Politologe hat Feridun Zaimoglu ebenso ins Türkische übersetzt wie Ernst Bloch. „In mancher Hinsicht, etwa was die Entwicklung neuer technischer Produkte oder Fernsehformate anbetrifft, ist die türkische Gesellschaft up to date. Aber wenn es darum geht, die gesellschaftlichen Entwicklungen in anderen Ländern im Detail nachzuvollziehen, herrscht ein gewisses Desinteresse. Das hat mit dem starken Nationalismus zu tun, aber vielleicht auch damit, dass die türkische Gesellschaft in sich so konfliktgeladen ist.“
Bemerkenswert ist auch, dass nur die wenigsten deutschtürkischen Künstler geläufig sind – abgesehen von Fatih Akin natürlich. Von Feridun Zaimoglu hingegen ist nur „Koppstoff“ übersetzt, von Emine Sevgi Özdamar nur „Das Leben ist eine Karawanserei“. Am ehesten bekannt ist Zafer Senocak, der nach einigen Übersetzungen zuletzt auf Türkisch zwei Romane vorgelegt hat. „Ich schreibe nicht speziell für den deutschen Markt“, sagt er, „vielleicht liest man mich deshalb mehr“.
Dabei ist auch in der türkischen Gegenwartsliteratur das Thema Migration abwesend. „Seit 20 Jahren bewegt sich die türkische Literatur fast nur noch im Kosmos einer urbanen Mittelklasse“, meint der bekannte Kritiker Ömer Türkes. Möglicherweise sei das ein Grund dafür, warum türkische Literatur inzwischen im Ausland mehr gelesen werde. DENIZ YÜCEL