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Archiv-Artikel

„So wird die Welt erreichbarer“

AUS TEL AVIV UND BERLIN SUSANNE KNAUL UND KIRSTEN KÜPPERS

Deutschland lockt mich überhaupt nicht“, sagt Gila Landsmann und schüttelt dazu den Kopf. Nicht dass sie etwas gegen das Land hätte, aus dem ihre Eltern stammen. Dass sie trotzdem vor wenigen Wochen einen deutschen Pass beantragt hat, sei aber kein Widerspruch. Mit einem deutschen Pass „wird die Welt erreichbarer“, erklärt sie. Als Israelin müsse sie ungleich peniblere Prüfungen an den Grenzübergängen über sich ergehen lassen als als „Europäerin“.

Die 48-jährige Mutter dreier erwachsener Töchter arbeitet in einem kleinen, spartanischen Büro der Plastikfabrik von Kibbuz Hasorea im nördlichen Israel. An der Wand hängen Bilder ihrer Tochter, wie sie über die Felder galoppiert. Gila nimmt die Aufträge entgegen und leitet sie an die Herstellung weiter. „Wir produzieren Milchtüten und Schälchen für Salate, die zum Teil auch ins Ausland exportiert werden“, erklärt sie nicht ohne Stolz. Die Geschäfte gingen gut.

Der Gedanke, wo sie heute wäre, hätte es keinen Hitler und keinen Holocaust gegeben, beschäftigt Gila wenig. Nur sehr selten erzählten ihre Eltern über die Kindheit in Berlin, wo die Familien noch heute „ein paar Grundstücke irgendwo in der Stadtmitte besitzt“. „Meine Eltern lieben Deutschland nicht besonders, aber sie hassen es auch nicht“, betont Gila. Untereinander hätten die beiden immer Deutsch gesprochen. „Im Kibbuz war jede andere Sprache als Hebräisch verpönt“, sagt sie. Das erklärt, warum sie selbst heute kaum ein deutsches Wort versteht.

Gila muss nachrechnen, in welchem Jahr ihre Eltern Deutschland verließen. 1936, drei Jahre nach Hitlers Machtergreifung, wurden sie zur Hachschara (zionistische Ausbildung) nach London geschickt, berichtet sie. Obschon 17 und 18 Jahre alt, hätten sie niemals etwas über antisemitische Übergriffe gesagt. Die Eltern ihrer Mutter seien von den Nazis ermordet worden, „wahrscheinlich in Auschwitz“.

Einen deutschen Pass zu beantragen sei im Kibbuz nichts Besonderes. Die meisten Familien sind deutscher oder osteuropäische Herkunft. „Wer kann, hat sich schon die Papiere besorgt“, berichtet Gila, die vor allem wegen ihrer Töchter die zweite Staatsbürgerschaft beantragt hat. Ehepartner haben dagegen keinen Anspruch. „Im Kibbuz geht der Witz, dass wir mit den Kindern abhauen und unsere Gatten zurücklassen“, lacht Gila. Wann das sein würde? „Wenn die Araber uns vertreiben“, sprudelt es aus ihr heraus, dann aber sagt sie hastig: „Versteh mich nicht falsch, ich habe nichts gegen die Araber, und es denkt hier wirklich keiner ans Weggehen.“ Gila ist auch sicher, dass ihre Töchter in Israel bleiben werden. Wenn die „eines Tages ein arabisches Land besuchen wollen, dann haben sie mit dem europäischen Pass die Möglichkeit dazu.“ Selbst in die USA, die israelischen Touristen seit kurzem bei der Einreise Fingerabdrücke abverlangen, „reist es sich mit dem neuen Pass leichter“.

Schon vor einem Jahr hat sich Nurit Limor die Anträge besorgt. Ausgefüllt sind sie noch immer nicht. „Mein Antrag auf einen polnischen Pass ist die Fortsetzung meines Überlebenskampfs“, erklärt sie, „nicht weil ich Polen so sehr vermisse.“ Sie war kaum zehn Jahre alt, als sie 1957 mit ihren Eltern nach Israel kam. Jahrelang habe sie von einer Rückkehr geträumt, an das Haus ihrer Kindheit in Breslau gedacht, „von dem ich jedes Detail täglich vor Augen hatte“. Die Sehnsucht ging „immer zusammen mit einer ständigen Erinnerung an den Holocaust“.

Die noch immer mädchenhaft wirkende Großmutter rafft die ergrauenden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen und zieht die Strickjacke enger um sich, als sie von ihrer ersten Dusche in Israel erzählt. „So muss es ausgesehen haben“, habe sie gedacht. Ihre Mutter „hat mir nie direkt über das Lager erzählt“, das sie als Einzige von fünf Geschwister überlebte. Aber es habe „Andeutungen“ gegeben und „ihre nächtlichen Schreie“.

Für Nurit, die nach dem Krieg geboren wurde, ist der Holocaust täglich präsent: „Wenn ich eine Gurke schäle, denke ich: Im Ghetto hättest du die Schale nicht weggeworfen.“ Dass ihre Tochter und die vier Enkelinnen blond sind, macht die ehemalige Lehrerin glücklich, „weil ich sie so besser retten kann“. Als sie vor zwei Jahren zum ersten Mal wieder in Polen war und Auschwitz besuchte, wurde das Grauen der Vernichtung „konkreter“. Trotzdem blieb der Besuch „nur eine Fortsetzung dessen, was ich täglich erlebe“, sagt sie. „Auschwitz ist Teil meines Lebens.“ In einer Gaskammer ritzte sie den Namen der Großmutter in die Wand.

Ihr Verhältnis zu Polen könnte ambivalenter nicht sein. Da sei sehr viel Wärme. „Wenn ich hier jemanden Polnisch sprechen höre, möchte ich am liebsten gleich hinrennen und sagen: ‚Hey, ich gehöre auch dazu.‘ “ Die Landschaft ihrer Kindheit, Literatur und Liedgut sind bis heute ein Teil ihrer Kultur. Gleichzeitig habe sie große Angst. „In Auschwitz war eine Gruppe lachender Skinheads. Die Häuserwände in Warschau, vor allem im Ghetto, sind voller Graffiti mit dem Davidstern, der am Galgen hängt.“ Polen sei „ein fruchtbares Feld“ für die Nazis gewesen, sagt Nurit Limor. Aber „die Polen sind für den Holocaust nicht verantwortlich“. Als Deutsche wäre „die Entscheidung, eine Staatsbürgerschaft zu beantragen, ungleich schwerer“.

Der politische Konflikt und die Gefahr in Israel habe sie dazu gebracht, konkrete Alternativen zu erwägen. „Seit ich denken kann, beschäftigt mich die Suche nach Fluchtwegen. Wo kann ich einen Tunnel bauen, wo ist ein Dachboden.“ Allein das sei der Grund, warum sie sich die Antragsunterlagen geholt habe. Aber das Land verlassen „kommt überhaupt nicht in Frage. Auch nicht, wenn Krieg wäre.“

Inbal Baron läuft auf Glitzerstrümpfen durch die Wohnung. Die Strümpfe glitzern wegen der Lurexfäden in der Wolle. Die Wohnung ist ein Loft in Berlin-Mitte. Sie sieht aus wie aus einem Science-Fiction-Film. Aus dem Fenster kann man den Fernsehturm sehen, die Badewanne lässt sich hinter einer Schiebetür aufklappen, die Möbel sind aus geschwungenem Plastik. Die 27-jährige Inbal Baron läuft herum und zeigt ihr neues Leben. Sie redet und erklärt. Aber ihre Strümpfe sagen schon alles. Am Glitzern kann man erkennen, dass es vor allem modische Gründe waren, warum sie nach Berlin gekommen ist.

Drei Monate ist sie jetzt hier. „Was gehst du ins Naziland?“, haben manche zu Hause in Tel Aviv gesagt, bevor sie losfuhr. Aber diese Menschen spielen keine Rolle in der Welt von Inbal Baron, sie sind zu alt. Bei Inbal sind die Leute jung. Sie haben windschiefe 80er-Jahre-Frisuren auf dem Kopf und Glitzerstrümpfe an den Füßen, hören elektronische Musik und tanzen die Nächte in Tel Aviv durch. Sie sind von Beruf DJ oder studieren Kunst und lassen sich für bunte Zeitschriften vor Graffitiwänden fotografieren.

In dieser Welt ist Berlin gerade sehr in Mode. „Früher sind alle nach New York, jetzt kommen eben alle nach Berlin.“ New York ist teuer und depressiv. Berlin ist billig und hat Techno-Clubs, den Osten und den Fernsehturm. Graffiti-Wände gibt es auch. „Die Szene in Israel ist ganz verrückt nach Berlin“, schwärmt Inbal Baron. Die Israelis fliegen Berliner DJs ein, sie tanzen auf Musik aus Ostberliner Kellern, sie lesen deutsche Comic-Hefte, sie lieben Fotos mit Fernsehturm drauf.

Der Großvater von Inbal Baron heißt Fritz. Er ist vor einigen Jahren in Israel gestorben. Seine Familie hatte über Generationen in Berlin gelebt in einer eleganten Villa im Süden der Stadt. Im Dritten Reich wurden alle Familienmitglieder im KZ ermordet, – außer dem jungen Fritz. Er floh nach Paris und wanderte später nach Israel aus. Dort hat er sich lange Jahre als Taxifahrer durchgeschlagen. Zu neuem Reichtum und Glück hat er es nicht mehr gebracht.

Es ist eine traurige Geschichte. Inbal Baron erzählt sie wie eine Anekdote. Vielleicht hat sie die Geschichte schon zu oft erzählt, vielleicht ist es auch zu lange her. Wegen ihres Großvaters Fritz hat Inbal Baron jetzt einen deutschen und einen israelischen Pass. Sie weiß, dass irgendwo in Berlin eine Villa steht, die eigentlich ihrer Familie gehört. Sie fühlt irgendeine diffuse Verbindung zu dieser Stadt. Aber das ist nicht so wichtig. Sie ist eine junge Designerin und sie will hier eine Galerie eröffnen. Derzeit verdient sie ihr Geld noch als Projektleiterin in der Berliner Niederlassung einer israelischen Softwarefirma. Aber in diesem Jahr soll es losgehen mit der Galerie. Sie ist gekommen, weil sie ihre Partys in Tel Aviv mit den Graffitiwänden in Berlin zusammenbringen will. „Ich will einen Austausch“, sagt sie. „Deswegen bin ich hier.“

Inbal Baron sagt, dass es viele junge Menschen gibt wie sie. Viele junge Israelis wollen jetzt nach Deutschland. Sie kommen nicht aus Angst vor der politischen Situation in ihrem Land, meint Inbal Baron, nicht wegen der Bomben und Panzer. „Auf gar keinen Fall!“, ruft sie. Sie wandern aus, weil es gerade schick ist, in Berlin zu leben. Und dann fängt sie wieder an zu reden von den DJs, der Musik und den endlosen Nächten. Und geht auf ihren Glitzerstrümpfen zum Regal und holt noch ein paar Szenemagazine aus Tel Aviv aus der Ablage. Auf den Fotos sieht man junge Menschen, die vor Berliner Plattenbauten posieren. Im Hintergrund steht der Fernsehturm. Der Fernsehturm sieht ziemlich gut aus auf den Fotos.