: Abgucken ist hier erwünscht
Von hochbegabt bis lernschwach – in einer Neuköllner Grundschule sitzen Kinder verschiedenen Alters und unterschiedlicher Herkunft in einer Klasse. Was laut Schulgesetz kommen soll, ist hier seit zehn Jahren Praxis. Dorfschule oder Zukunftsmodell?
VON ANNA LEHMANN
Adam ist hyperaktiv, cholerisch und nach Ansicht von Schulpsychologen nicht beschulbar. Seine Eltern haben ihn an der Peter-Petersen-Grundschule in Neukölln untergebracht. An der Schule kursiert folgende Anekdote: Adam rüstet sich krebsrot im Gesicht für einen Wutanfall, sein Banknachbar will ihn beruhigen, doch die Klassenleiterin mahnt: „Ignorieren“. Was „ignorieren“ heiße, will Adams Nachbar wissen. „Nicht beachten“, klärt Adam auf und geht hoch.
Rosemarie Mateyka ist Lehrerin an der Neuköllner Grundschule und erzählt mit einer Spur Ehrfurcht von dem neunjährigen Adam. Schüler wie er sind an der Schule keine Seltenheit. Nicht nur weil die Schule in einem so genannten Problembezirk liegt, mit hohem Ausländeranteil und zahlreichen Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern. Sondern auch weil sie wegen ihres besonderen pädagogischen Konzepts für Eltern von Kindern wie Adam, die an gewöhnlichen Grundschulen scheitern, ein Ausweg ist, eine letzte Chance.
An der Peter-Petersen-Schule lernen die Schüler der 1. bis 3. und der 4. bis 6. Jahrgangsstufe zusammen in jeweils drei so genannten Stammgruppen. Die 28 Kinder einer Gruppe bewältigen den Großteil des Unterrichtsstoffes gemeinsam. Für Aufbaustunden in Mathe oder Deutsch werden die Kinder gleichen Jahrgangs zu „Teams“ zusammengefasst. Jahrgangsübergreifendes Lernen oder „JÜL“ nennt sich dieser Modellversuch, der seit fünf Jahren auch berlinweit praktiziert wird. Mittlerweile gibt es 18 JÜL-Schulen, ihre Zahl soll dem neuen Schulgesetz zufolge um 30 steigen (siehe Kasten). In diesem ist das jahrgangsübergreifende Lernen außerdem für die 1. und 2. Klasse festgeschrieben worden, die zur „Schuleingangsphase“ verschmelzen. So sollen soziale Kompetenzen gefördert werden, heißt es im Gesetz.
In der Praxis sieht das so aus: Die Schüler der Stammgruppe 1.3. haben die Stühlchen im Kreis zusammengestellt, zwischen ihnen ragen die Gestalten der zwei Lehrerinnen Bettina von Zadow und Rosemarie Mateyka auf. Die Kinder lesen aus ihren „Geschichtsheften“ vor, wie sie das Wochenende verbrachten. Der siebenjährige Mustafa ist als Erster dran. Von links und rechts beugen sich Jacquelines blonder und Emres schwarzer Schopf ebenfalls konzentriert über sein Heft. Wo der Erstklässler stockt, ergänzen die beiden aus den höheren Jahrgängen. Bei Mustafa wird zu Hause ausschließlich Arabisch gesprochen und geschrieben, und so hatte er anfangs Mühe, sich an die ungewohnte Leserichtung von links nach rechts zu gewöhnen. Reihum geht es weiter. Der siebenjährige Hubert traut seinem Geschriebenen nicht und lässt es von Emre vortragen. Die gleichaltrige Janani aus Singapur hat drei Seiten mit Druckbuchstaben gefüllt und liest Wort für Wort genussvoll vor. Dennis, der zwei Jahre älter ist, begnügt sich mit drei Sätzen, die er leise und stockend hervormurmelt. Wer besonders schön geschrieben und gemalt hat, bekommt Applaus, wer kämpft, dem sekundieren die Nachbarn.
Für die Lehrerinnen bedeute das eine gewaltige Arbeitserleichterung, führt Rosemarie Mateyka aus: „Wenn die Kleinen Hilfe brauchen, dann wenden sie sich zuerst an die Großen. Und diese werden dazu angeregt, den Stoff zu wiederholen und zu festigen.“ Viele Aufgaben machen die Kinder in der Gruppe gemeinsam und haben je nach Alter unterschiedliche Anforderungen zu bewältigen. Aber manchmal probieren sich auch schon einige Erstklässler an höheren Aufgaben. Nach einem halben Jahr Schule hat so mancher Erstklässler zu einigen Drittklässlern aufgeholt. „Das spornt die Älteren natürlich zum Weitermachen an“, erklärt Bettina von Zadow. Außerdem würden auf diese Weise hochbegabte Kinder gefördert, ohne die Klasse zwecks Überspringen verlassen zu müssen.
„Durch das gemeinsame Lernen werden auch Probleme aufgefangen. Bandenbildung wie an der gegenüberliegenden Grundschule gibt es hier nicht“, ergänzt sie. Einige Probleme der Außenwelt können an der Peter-Petersen-Schule kompensiert werden, doch längst nicht alle. Es gebe viele Kinder, da käme von zu Hause gar nichts, berichten die Lehrerinnen. Die Eltern einer Schülerin könnten nicht mal lesen oder schreiben.
An der Schule lernen vierzehn Nationalitäten, allein acht in der Stammgruppe 1.3. „Wir bräuchten massig Förderunterricht für unsere Migrantenkinder“, berichten die Lehrerinnen von ihren Problemen. Gegenwärtig geben sie Sprachunterricht neben ihrer regulären Arbeitszeit, doch selbst das reiche nicht. Viele zusätzliche Lehrkräfte würden gebraucht, stellen sie fest. Doch davon steht im Schulgesetz nichts.
Aber nicht die Nationalität, sondern die soziale Herkunft der Kinder sei entscheidend für ihre Schulleistungen, versichern Mateyka und von Zadow. Adam, der Hochbegabte und Schwererziehbare, ist polnischer Herkunft, seine Eltern sind Akademiker. Er lernt gegenwärtig in der nächsthöheren Stammgruppe. Dort bei den Älteren traue er sich nicht so viel, die hätten ihn unter Kontrolle, und dem Unterricht könne er ohne weiteres folgen, berichten die Lehrerinnen. Und nach der Grundschule? „Keine Ahnung, aber aus dem wird garantiert mal was“, lächeln sie, „bei so viel Energie.“