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Archiv-Artikel

wiedergelesen: Wolfgang Borchert, „Die traurigen Geranien“ und andere Geschichten aus dem Nachlass Ein Traum von Palmen, Kokosnüssen, Äffchen

In der Serie „Wiedergelesen“ besprechen unsere Autoren norddeutsche Bücher, die vor langer Zeit erschienen, ihnen aber bis heute nicht aus dem Kopf gegangen sind

Wolfgang Borchert (1921 – 1947) konnte seine Story „Die Professoren wissen auch nix“ nicht mehr selbst zu Papier bringen. Er hat sie dem Vater diktiert, der sie in die Maschine hackte, während der Sohn vom Fieber geschüttelt und längst vom Tode gezeichnet in der Hamburger Matratzengruft dahinsiechte. Davon erzählt die Geschichte.

Im weiteren Verlauf streiten Vater und Sohn über ein literarisches Detail, genau genommen über einen Katzenknochen, den Borchert „bleichsüchtig aus dem Schlamm eines Kanals heraufschillern“ lässt. Der Vater findet, so gehe es nicht. „Kein Anatomieprofessor, der zudem sowieso meistens kurzsichtig ist, würde von einer Brücke aus erkennen, ob es sich um den Knochen einer Katze oder eines Freudenmädchens handelt – die Professoren wissen nämlich auch nix, mein Lieber.“

Dann wird die Arbeit unterbrochen. Besuch ist da, ein Mädchen. „Es hat dunkle Augen und dunkle Haare, (…) ihre neunzehn Jahre lassen meinen Puls wie ein Äffchen eine Palme hochklettern, von wo aus es mit rothaarigen Kokosnüssen nach mir wirft.“ Die beiden flüstern ein paar verliebte Worte, er schiebt ihre Hand auf sein wummerndes Herz, dann schweigen sie. „Was sollen wir jetzt auch noch sagen? Keinem Tenor der Welt würde nach unseren Kokosnüssen noch etwas Besseres einfallen. Niemand wüsste etwas Schöneres. Die Professoren erst recht nicht. Die Professoren wissen gar nix!“ Aber der Vater weiß, „dass das Trommelfeuer von Kokosnüssen meine Leber ruinieren würde, wenn er nicht eingreift“. Das Mädchen muss gehen. Dann bringen Vater und Sohn die Story zu Ende. „Es ist ein Traum von Palmen, Kokosnüssen, Äffchen und dunklen, dunklen Augen.“ Und eine der herzergreifendsten Sachen, die Borchert je geschrieben hat.

Ein Jahr später war er tot und auf dem Weg berühmt zu werden. Sein Kriegsheimkehrerstück „Draußen vor der Tür“, einen Tag nach seinem Ableben an den Hamburger Kammerspielen uraufgeführt, ging um die Welt. Sein Erfolg behängte Borchert mit dem Image des Trümmerpoeten, des nihilistischen Pathetikers und Outsiders, Sprecher der Enttäuschten und Verführten, der „verratenen Generation“, der aussah wie sein Theaterheld Beckmann: zerschlagen, desillusioniert, unversöhnlich, unbehaust, wie „einer von denen, die nach Hause kommen, und die dann doch nicht nach Hause kommen, weil für sie kein Zuhause mehr da ist. Und ihr Zuhause ist dann draußen vor der Tür.“

So wurde er Generationen von Oberschülern vorgeführt und den meisten wurde er lieb und teuer. Vielen, die das Stück später wieder lasen, war die juvenile Begeisterung dann eher peinlich. Zum Beispiel Jan Philipp Reemtsma: „Das Ergebnis meines erneuten Lesens ist katastrophal gewesen“, urteilte er.

Es ist dem großen Dichterkollegen Peter Rühmkorf zu verdanken, dass man Borchert mit diesem vernichtenden Diktum nicht mehr vom Podest stoßen kann. 1962 edierte er bei Rowohlt den Band „Die traurigen Geranien und andere Geschichten aus dem Nachlass“, eine Sammlung „meisterhafter“ Shortstories, die Wolfgang Borchert als einen „ganz ausgezeichneten, eigenwilligen, stilprägenden und feinnervigen Schriftsteller“ präsentieren, wie Rühmkorf in einem Nachwort ausführt.

Allein die oben erwähnte Geschichte ist ein Musterstück seiner Kunst, auf knappstem Raum ein berührendes Gemisch aus unbestechlich präziser Beobachtungsgabe und poetischer Überhöhung anzurühren. Seine Protagonisten sind Selbstmörder, Knastbrüder, Verlorene und hoffnungslos Liebende, die er ohne Sentiment, oft mit skurrilem Witz und kantigem Strich zu schildern weiß.

Da, wo es passt, dreht die Sprache Pirouetten, badet in Alliterationen, und Assonanzen, erfindet Neologismen und witzige Oxymora und entwirft starke Bilder, etwa, wenn Menschen „an Häusern kleben wie graue Flecken“. Oder Borchert lässt sie mit Holden Caufiled’schem Übermut ins Kraut schießen wie in der Geschichte von Tui Hoo, jener steife Brise, die in Hamburg stetig um die Häuser weht und „rammelte und rasselte an den Herzen und Fenstern der Wohlbehüteten“ und „den Mädchen die Röcke an die Knie drückt“.

Überhaupt sind Borchert Naturbeschreibungen fast das schönste an diesem Büchlein. Da seilt „der Mond, die alte blasse Zitrone, lautlos und lüstern um den schlanken Leib von St. Katherin“, oder „der Nebel spukte in geflickten Unterhosen vom Hafen her durch die leeren Straßen, bis er träge an einer Laterne hängen blieb“. Die Story „Liebe blaue graue Nacht“ ist eine einzige Hymne an das „nebelige, flussdunstige Blaugrau“ zwischen „halb zehn Uhr abends und Viertel nach vier morgens“. Dann, schreibt Borchert, „wollen wir die dumme abgetragene, aufgeblasene Würde des Erwachsenseins wie eine vermottete Wolljacke ausziehen und auf einen großen Haufen werfen und verbrennen – und uns den himmlischen Regen, den Sohn der Sonne und der See, durch die Locken ins Hemd laufen lassen. Komme keiner und sage, das wäre keinen Schnupfen wert.“ Fällt uns gar nicht ein. MICHAEL QUASTHOFF

Wolfgang Borchert: „Die traurigen Geranien und andere Geschichten aus dem Nachlass“, Rowohlt- Taschenbuch, 128 Seiten, 5,90 Euro