: „Hey Mama, lass mich endlich in Ruhe!“
Hinterm Bahnhof hört keiner ihr Gebrüll: In einem geschützten Raum lernt eine Hand voll Menschen, Frust rauszulassen. Laut und kraftvoll. Es ist pure Energie, die aus den Wütenden herausbricht
allo Anja, du blöde Kuh!“ Die schlanke Frau mit den blonden Haaren reckt sich und schlägt zu, wieder und wieder, läuft rot an, die Haare fliegen, sie brüllt, ihre Stimme überschlägt sich. Stimmen feuern sie an. „Weiter, ja, mach weiter!“ Auf Momente der totalen Wut folgt Ruhe. Die Frau steht auf. Sie bekommt Applaus, Beifall dafür, dass sie ihre Gefühle rausgelassen hat.
Die Frau, Ellen*, hatte soeben einen Wutanfall. Einen kontrollierten Ausbruch dessen, was sie ankotzt. Sie schlug nicht etwa Anja, die ist gar nicht anwesend. Ellen schlug mit einem hölzernen Stock auf eine Matte, mit aller Kraft. Draußen ist es dunkel, an der Plantage hinterm Bremer Bahnhof wohnt kein Mensch – niemand hört Ellens Gebrüll. Und das der anderen, wenn sie einmal in der Woche üben, Herr ihrer Gefühle zu werden.
Eineinhalb Stunden dauert der Abend. Nach Bremen gebracht von Dorothea Lang. „Früher war ich immer sehr depressiv. Dann war ich drei, vier Jahre lang nonstop wütend“, sagt die Kommunikationstrainerin. So fing sie an, anderen zu helfen, ihren Ärger zu spüren.
Die Idee hinter dem Training scheint so einfach wie einleuchtend: Wut ist ein Schritt ins Erwachsensein. Statt sich anzupassen, Situationen lächelnd hinzunehmen, die einem eigentlich stinken, soll es hier darum gehen, von Zwängen frei zu werden. Und die eigenen Grenzen deutlich dort zu setzen, wo andere sie überschreiten. Das lässt sich üben. Lang: „Und dann habe ich die Kontrolle über den Ärger, und nicht er über mich.“
Schreien, Brüllen, so entschieden sprechen, dass der eigene Aufruhr beim anderen ankommt – das Training soll Raum bieten, Frust einmal rauszulassen. Und umso ruhiger, verantwortlicher wieder dem Rest der Welt zu begegnen. Anfangs reden die Wütenden sich warm, sprechen im Trainingspartner ihre Eltern, Kollegen, Mitbewohner an. Keiner benutzt Schimpfworte, aber deutlich sind sie fast alle.
Anne* nicht. Noch nicht. Sie ist älter als die meisten hier. Um die 50 statt um die 30. Zierlich, oft lächelnd, zurückhaltend. „Was ich mache, ist gut“, sagt sie zu ihrer imaginären Mutter – heftig, findet sie. Nicht heftig genung, findet das Gegenüber. Also nochmal: „Was ich mache, ist gut“, ruft Anne, „lass mich endlich in Ruhe.“ Schon besser, findet die Partnerin.
Frag nach dem, was du brauchst. Drücke deine Gefühle aus. Setze Grenzen. Sag ja/sag nein. Die Sätze stehen auf einem Blatt Papier, das an der Wand hängt: eine Art Anleitung. „Wir wären erwachsen, wenn wir einfach nur die Sätze befolgten“, sagt Dorothea Lang, „aber meistens schaffen wir es nicht.“
„Das hier ist Training, keine Therapie“, betont Dorothea Lang. Es geht ums Üben, sein Verhalten zu ändern – um die darunterliegenden Muster geht es hier nicht. Jeder Teilnehmer versichert schriftlich, dass er nicht psychisch krank ist oder Psychopharmaka einnimmt. Alles Gesagte bleibt im Raum, und Blut ist tabu.
Dorothea Lang sagt, sie erkenne, ob einer ein Kandidat für völliges Ausrasten, für Kontrollverlust ist: „Der kommt nicht rein.“ Und wenn einer tatsächlich therapeutische Hilfe brauche, schicke sie ihn weiter.
„Vieles, was mit Gefühlen zu tun hat, kann man zwischenmenschlich klären und muss nicht immer sofort zum Therapeuten“, findet Lang, „eine Hebamme kann den Schmerz einer Frau bei der Geburt ja auch ertragen.“ Und nur für diesen Teil, Gefühle deutlich zu machen und auszuhalten, stehe ihre Arbeit.
„Du kannst dich für die Wut entscheiden“, sagt sie. „Entscheide dich für die Wut und flipp’ aus“, sagt sie mit ruhiger, leiser Stimme zu Daniela*. Daniela liegt auf dem Boden, die Beine auf einer Matte, die Arme auf Decken, den Kopf auf ein Kissen gebettet. Daniela will ein „Tantrum“, einen kindlichen Wutanfall. Die anderen halten Matte, Decken und Kissen fest – und Daniela tobt los. Brüllt mit aller Kraft, wird knallrot, die Augen quellen hervor, die Füße strampeln auf der Matte, Fäuste trommeln auf die Decken. Danielas Körper bäumt sich auf, ein finaler Urlaut hallt durch den Raum, und erschöpft sinkt sie in sich zusammen. Stille. Sie öffnet die Augen, legt die Hände auf den Bauch, Momente der Besinnung.
Dann richtet sie sich auf. Die anderen, die sie zuvor mit aller Kraft angefeuert haben, klatschen nun Beifall und sehen Daniela an. Daniela nimmt ihren Applaus entgegen, sieht sekundenlang einer jeden in die Augen, lächelt ein bisschen.
Was konstruiert wirken mag, ist wichtiger Bestandteil des Trainings: Die Teilnehmerinnen sollen lernen, dass ihre Gefühle richtig sind, so wie sie sind – auch die wenig sozialverträglichen. Den Beifall auszuhalten, fällt vielen schwer. Auf einen Ausbruch auch noch stolz zu sein, ist nicht einfach. Aber es lässt sich üben.
„Du wirst dich herauskatapultieren aus deiner Opferhaltung: Mein Chef ist schuld, mein Partner ist schuld, meine Eltern sind schuld“, sagt Dorothea Lang, „Ärger ist ein erschlaffter Muskel in uns, weil wir schon als Kinder gelernt haben, ihn nicht auszudrücken.“ Statt irgendwann auszurasten, statt in Selbstmitleid oder Trauer zu versinken, sollen die erlaubten Gefühle Energie freisetzen.
„Es ist immer wieder überraschend, es funktioniert tatsächlich“, sagt Daniela nach ihrem Tantrum, „ich kann mich für die Wut entscheiden.“
Nicht jeder wagt sich so aus sich heraus wie Daniela. Die „Stockarbeit“ kostet weniger Überwindung. Nacheinander schlagen die TeilnehmerInnen mit dem Holzstock, so lang wie ein Baseballschläger, auf die Matratze ein. Sie brüllen „Hey Mama, lass mich endlich in Ruhe!“ oder „Ich arbeite nach meinem Tempo!“ oder „Kümmer dich um deinen eigenen Kram!“, hauen drauf, so heftig sie können, die Schläge hallen durch den Raum. Was bedrohlich aussieht, fühlt sich ganz anders an. Die Wütende schlägt mit der Matratze nicht die Person, die sie beschimpft. Sondern lässt ihren Ärger raus, pure Energie. Die Person, die Anlass ist, steht weit dahinter.
Das Training, sagen die Geübten, gebe ihnen Kraft. Hans*, einziger Mann in der Gruppe, hat einen ersten Erfolg verbucht. Eine Weiterbildungsmaßnahme war dem Arbeitslosen verwehrt worden. Nun ist er erneut zum Amt gegangen. Ist bestimmt aufgetreten. Hat gesagt, was er will. Klar und deutlich. Diese Maßnahme. Er hat sie bekommen.
Susanne Gieffers
*Name geändert
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