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Wenn die Zeit einfach stehen bleibt

Allein in Berlin liegen 360 Erwachsene und Kinder im Langzeitkoma. Jährlich kommen rund 130 Patienten hinzu. Einer davon ist Oskar. Sein Schicksal bewegte ein Unternehmerpaar zur Gründung der Lumia-Stiftung. Die hilft den ratlosen Angehörigen.

Von CHRISTINE SCHMITT

Als sie nach Hause kam, sah sie als erstes das Blaulicht der Rettungswagen vor ihrem Tempelhofer Haus. Die Notärzte waren schon dabei, ihre Zwillinge wiederzubeleben. Sie ging in ihre Wohnung, sank auf die Knie und schrie – bis sie ihren ältesten Sohn sah. „Ich habe Angst“, weinte der damals Sechsjährige. Ich auch, erwiderte Gudrun Streit. Sie war aus dem Haus gegangen – und als sie wiederkam, war ihre Welt nicht mehr die alte: Ihre Zwillinge waren durch ein Loch im Zaun geschlüpft und im Zierteich des Nachbarn ertrunken.

Die stundenlange Wiederbelebung glückte, Lisa und Oskar wurden in ein künstliches Koma versetzt. Das Mädchen wachte nach ein paar Tagen auf, Oskar blieb im Wachkoma. „Ich wusste kaum etwas übers Koma und auch nicht, wer mir helfen und mich beraten könnte“, sagt die Mutter. Es gab damals in der Hauptstadt keine offizielle Anlaufstelle.

„Das wollen wir ändern“, sagt Psychologin Beatrice Huber von der kürzlich gegründeten Lumia-Stiftung, die sich kostenlos um Familien in Berlin und Brandenburg kümmert, deren Kinder im Koma liegen. Das Schicksal Oskars hat eine Unternehmerfamilie so bewegt, dass sie die Stiftung initiierte und die Miete fürs Büro und Gehälter der Psychologin und der Kinderkrankenschwester finanziert.

„Ich habe schon jetzt viel zu tun und betreue zehn Familien, deren Kinder sich im Koma befinden oder aufgewacht und behindert sind“, sagt Beatrice Huber. Und sie ist auch für Oskars Familie da, begleitet sie zu Arztbesuchen und ist dabei, wenn die Gutachter vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung kommen, um die Höhe des Pflegegeldes für den behinderten Jungen zu bestimmen.

„Beinahe-Ertrinkensunfälle, Verkehrsunfälle mit Schädel-Hirn-Trauma oder schwere Krankheiten können zu einer Hirnschädigung und ins Wachkoma führen“, erklärt Huber. Allein in Berlin liegen 360 Erwachsene und Kinder im Langzeitkoma, jährlich kommen 130 Menschen dazu, weiß der Amberger Verein „Schädel-Hirn-Patienten in Not“. Ob die Patienten den Zustand überwinden, könne kein Arzt vorhersagen. „Wenn ich gerufen werde, komme ich sofort in die Akutklinik und bleibe bei der Familie.“ Sie ist auch bei den Arztgesprächen dabei. So will Huber Vertrauen aufbauen. Wichtig sei, sagt sie, dass sie auch Schmerz und Kummer mit aushält. Denn „das Unglück verursacht ein emotionales Trauma, die Gefühle aller Familienangehörigen geraten durcheinander“.

Was wird aus unserem Kind? Wie geht es weiter? Werden wir damit fertig? Schaffen wir die finanziellen Belastungen? Das sind die Fragen, die Eltern quälen. Huber kennt zwar nicht die Antworten, aber sie lässt die Eltern nicht allein damit. „Als ich Oskar zum ersten Mal im Wachkoma sah, erschrak ich“, erzählt Gudrun Streit. Seine Augen waren weit geöffnet, aber er fixierte nicht. Er konnte seinen Mund nicht schließen, konnte nicht schlucken und nur per Magensonde ernährt werden. Mit dem unternehmungslustigen 2-Jährigen von einst hatte er nur noch wenig Ähnlichkeit.

Nach vier Wochen Krankenhaus beschlossen die Streits: Wir nehmen Oskar mit nach Hause! Da es keine Reha-Klinik in Berlin gibt und die Familie nicht monatelang auseinandergerissen werden sollte, entschieden sie sich für eine ambulante Rehabilitation. „Ich hatte keine Ahnung, was auf uns zukommt“, erzählt die resolute Mutter. Oskar schlief nicht mehr. Er musste dauernd im Arm gehalten und betreut werden. Vater und Mutter schliefen nur noch in Schichten. Wechsel alle drei bis vier Stunden.

Oskar sollte das Schlucken wieder lernen, zehn Milliliter Milch brauchten schon mal eine Stunde, um zu passieren. Es galt, Therapeuten zu finden, die beiden anderen Kinder zu betreuen, Geld zu verdienen, eine atemlose Zeit. Der Vater blieb zu Hause, die Familie lebte vom Ersparten.

Der Teich, wo der Alptraum begann, wurde zugeschüttet. „Er störte mich aber nicht“, meint Gudrun Streit. Sie musste immer wieder hingucken, um zu begreifen, was geschehen ist. Eine Telefonnummer konnte sie bald auswendig: die von einer fremden Frau in Köln. Deren Tochter hatte das Wachkoma ebenfalls durchlaufen. Mit ihr telefonierte sie zu jeder Tages- und Nachtzeit, das half. Von ihr erfuhr sie, wie man eine ambulante Rehabilitation organisiert, welches Amt zuständig ist, was sie von der Krankenversicherung erwarten kann und wie sie und ihr Mann auch mal entlastet werden.

„Mit einem Kind im Koma gibt es keine Pausen, wenn man es zu Hause hat“, meint die Psychologin. An der Belastung und an der Trauer über das kranke Kind zerbrechen häufig die Familien. „Wir wollen helfen, bevor es so weit kommt“, sagt sie, die sich im Paragrafen-Dschungel auskennt und auch einem Sachbearbeiter nüchtern mitteilen kann, nach welchem Paragrafen das Kind ein Recht auf eine Tagesbetreuung hat und der Familie eine behindertengerechte Wohnung zusteht.

„Oft kennen betroffene Familien ihre Rechte nicht. Woher auch“, sagt Beatrice Huber. Wenn ein Kind im Wachkoma aus der Klinik nach Hause entlassen wird, kümmert sie sich – wenn die Familie das möchte – um einen ambulanten Pflegedienst, klärt über Therapien und notwendige Hilfsmittel wie Rollstuhl, Reha-Bett und spezielle Badewannenfixierung auf.

Sechs Monate nach dem Unfall huschte das erste Lächeln über Oskars Gesicht. Er war immer mehr anwesend. Heute ist Oskar spastisch gelähmt, laufen wird er wahrscheinlich nicht können. Aber jetzt, mit sechs Jahren, fängt er wieder an zu sprechen.

Oskar ist immer ein Schelm gewesen. Wahrscheinlich hat er damals die Idee gehabt, den Teich zu erforschen. Das würde zu ihm passen, meint die Mutter. Heute ist er wieder ein charmanter, neugieriger und hübscher Junge. Seine Persönlichkeit ist die gleiche geblieben. Das hat der Mutter geholfen, seine Behinderung zu akzeptieren. Dankbar ist sie für die ersten zwei wunderschönen, glücklichen Jahre. Sie hat sich damit abgefunden, dass Oskar nun für immer ihr besonderes Kind bleiben wird.

Info: Lumia-Stiftung

www.kinder-im-koma.de

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