: „Keine verdeckte Strategie“
von LORDRICHTER HUTTON
Ich bin überzeugt, dass Dr. Kelly sich das Leben genommen hat. Ich bin weiterhin überzeugt, dass keine andere Person am Tod von Dr. Kelly beteiligt war und dass Dr. Kelly an keiner wesentlichen psychischen Erkrankung litt, als er sich das Leben nahm.
Das Regierungsdossier „Iraks Massenvernichtungswaffen“ vom 24. September 2002:
Das Dossier wurde von einem kleinen Team der Mitarbeiter des JIC (Geheimdienstkomitee) vorbereitet und geschrieben. JIC-Vorsitzender John Scarlett hatte die Gesamtverantwortung. Das Dossier, das die 45-Minuten-Aussage beinhaltete (die Behauptung, der Irak könne innerhalb von 45 Minuten Massenvernichtungswaffen einsetzen. Anm. d. Red), wurde von der Regierung am 24. September 2002 mit voller Zustimmung des JIC veröffentlicht.
Die 45-Minuten-Aussage gründete auf einem Bericht, den der Geheimdienst von einer als zuverlässig betrachteten Quelle erhielt. Also war der Vorwurf von Mr Gilligan (BBC-Journalist; Anm. d. Red.) in seinem Bericht am 29. Mai 2003, dass die Regierung wahrscheinlich wusste, dass die 45-Minuten-Aussage falsch war, bevor sie beschloss, sie in das Dossier einzufügen, unbegründet – unabhängig davon, ob sich irgendwann in der Zukunft der Bericht, auf dem die 45-Minuten-Aussage gründete, als unzuverlässig erweist. Der Grund, warum die 45-Minuten-Aussage nicht vor dem 5. September 2002 in Entwürfen erschien, war, dass der Geheimdienstbericht, auf dem sie gründete, erst am 29. August 2002 erhalten wurde.
Da das Dossier dem Parlament und der Öffentlichkeit vorgelegt werden und von diesen gelesen werden sollte und keine geheimdienstliche Lageeinschätzung nur für die Regierung war, halte ich es nicht für ungebührlich, dass Mr Scarlett und das JIC Vorschläge zu seiner Abfassung von 10 Downing Street (Amtssitz des Premiers; Anm. d. Red) in Betracht zogen und sie annahmen, wenn sie mit der vorliegenden Information übereinstimmten. Doch kann nach meiner Meinung die Möglichkeit nicht völlig ausgeschlossen werden, dass der Wunsch des Premierministers nach einem Dossier, das in Bezug auf die Bedrohung durch Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen so kraftvoll wie möglich war, wenn auch in Übereinstimmung mit den vorliegenden Informationen, Mr Scarlett und die anderen Mitglieder des JIC unbewusst dahingehend beeinflusste, die Wortwahl des Dossiers etwas stärker zu machen als sie in einer normalen JIC-Lageeinschätzung gewesen wäre.
Der Begriff „sexed-up“ ist umgangssprachlich und seine Bedeutung ist unklar im Kontext des Dossiers. Er kann zwei Dinge bedeuten. Entweder, dass das Dossier mit Informationen ausgeschmückt wurde, von denen bekannt war, dass sie falsch oder unzuverlässig waren. Oder dass, während die im Dossier enthaltene Information korrekt war, das Dossier in einer Weise verfasst wurde, um die Vorwürfe gegen Saddam Hussein so stark zu machen wie die darin enthaltenen Informationen zuließen. Wenn man den Begriff im letzteren Sinne gebraucht, kann man sagen, dass die Regierung das Dossier „aufsexte“. Doch im Zusammenhang mit den Radioberichten, in denen der Vorwurf des „Aufsexens“ fiel, halte ich den Vorwurf für unbegründet, da die Hörer der Berichte ihn so verstanden hätten, dass das Dossier mit Informationen aufgebauscht worden war, von denen bekannt oder vermutet wurde, dass sie falsch oder unzuverlässig waren – was nicht zutraf.
Das Treffen zwischen David Kelly und Andrew Gilligan am 22. Mai 2003, aufgrund dessen die BBC später das Dossier als „aufgesext“ bezeichnete:
Im Licht der Unsicherheiten, die sich aus Mr Gilligans Aussagen ergaben, und der Existenz zweier Versionen seiner Notizen über seine Diskussion mit Dr. Kelly am 22. Mai ist es nicht möglich, endgültig festzustellen, was Dr. Kelly Mr Gilligan gesagt hat. Doch ich bin überzeugt, dass Dr. Kelly Mr Gilligan nicht sagte, dass die Regierung wahrscheinlich wusste oder vermutete, dass die 45-Minuten-Aussage falsch war. Dr. Kellys Treffen mit Mr Gilligan war nicht autorisiert.
Zu Gilligans BBC-Berichten vom 29. Mai 2003:
Mr Gilligans Vorwürfe in der BBC-Sendung Today am 29. Mai 2003, dass die Regierung wahrscheinlich wusste, dass die 45-Minuten-Aussage falsch oder fragwürdig war, bevor das Dossier veröffentlicht wurde, war unbegründet.
Die Vorwürfe, die Mr Gilligan erheben wollte, waren sehr schwerwiegend, und ich halte das redaktionelle System für fehlerhaft, mit dem die BBC zuließ, dass Mr Gilligan seinen Bericht senden durfte, ohne dass Redakteure ein Manuskript seiner Aussagen gesehen hatten und sich überlegt hatten, ob es gebilligt werden sollte.
Das BBC-Management handelte falsch, als es versäumte, die Beschwerden der Regierung gebührend zu untersuchen.
Die BBC-Gouverneure (entspricht Aufsichtsrat; Anm. d. Red) hätten besser erkennen sollen, als sie es taten, dass ihre Pflicht zur Verteidigung der Unabhängigkeit der BBC nicht unvereinbar war mit einer gebührlichen Prüfung der Berechtigung der Beschwerden der Regierung, dass die Vorwürfe gegen ihre Integrität in Mr Gilligans Sendung unbegründet waren, egal wie Mr Campbell (damals engster Berater Blairs. Anm. d. Red) diese Beschwerden ausdrückte. Anstatt sich auf die Versicherungen des BBC-Managements zu verlassen, hätten die Gouverneure selbst detailliert untersuchen sollen, in welchem Maß Mr Gilligans Notizen seinen Bericht deckten. Hätten sie dies getan, hätten sie sie wahrscheinlich entdeckt, dass die Notizen den Vorwurf nicht deckten, dass die Regierung wusste, dass die 45-Minuten-Aussage wahrscheinlich falsch war; und die Gouverneure hätten dann in Frage stellen sollen, ob es richtig für die BBC war, darauf zu bestehen, dass die Ausstrahlung dieses Vorwurfs im öffentlichen Interesse lag, und sich auf Mr Gilligans Zusicherung zu verlassen, dass sein Bericht stimmte.
Zu den Vorgängen, die zur Nennung Dr. Kellys als Gilligans Quelle und zu seinem Selbstmord führten:
Es gab keine ehrlose oder verdeckte oder verlogene Strategie der Regierung, Dr. Kellys Namen heimlich an die Medien weiterzugeben. Mitten in einer großen Kontroverse über Mr Gilligans Sendungen, die sehr schwerwiegende Vorwürfe gegen die Integrität der Regierung enthielten, und in Angst, dass Dr. Kellys Name als Quelle dieser Sendungen jederzeit von den Medien preisgegeben werden könnte, war meiner Meinung nach die Hauptsorge der Regierung, dass man sie einer ernsten Vertuschung bezichtigen könnte, falls sie nicht enthüllen würde, dass sich ein Beamter als Quelle bekannt hatte. Also denke ich, dass die Regierung nicht ehrlos oder verdeckt oder verlogen handelte, als sie am 8. Juli 2003 eine Erklärung veröffentlichte – die Dr. Kelly vorgelesen worden war und mit der er sich einverstanden erklärt hatte –, wonach ein ungenannter Beamter erklärt hatte, dass er Mr Gilligan am 22. Mai getroffen habe.
Die Entscheidung des Verteidigungsministeriums, Dr. Kellys Namen zu bestätigen, falls nach Veröffentlichung der Erklärung ein Reporter den richtigen Namen gegenüber dem Ministerium nennen würde, war nicht Teil einer verdeckten Strategie, seinen Namen preiszugeben. Sondern sie gründete auf der Ansicht, dass es in einer Angelegenheit von so intensivem öffentlichen Interesse nicht vernünftig wäre, zu versuchen, den Namen zu verheimlichen, wenn das Ministerium dachte, dass die Presse den richtigen Namen auf jeden Fall herausfinden würde.
Obwohl ich überzeugt bin, dass es Dr. Kelly nach der Veröffentlichung der Erklärung des Verteidigungsministeriums am 8. Juli klar war, dass sein Name herauskommen würde, muss es für ihn ein großer Schock gewesen sein, durch einen kurzen Anruf seines Vorgesetzten Dr. Wells am Abend des 9. Juli zu erfahren, dass die Presseabteilung seines eigenen Ministeriums seinen Namen gegenüber der Presse bestätigt hatte, und es muss in ihm ein Gefühl geweckt haben, von seinem Arbeitgeber fallengelassen worden zu sein. Nach meiner Meinung handelte das Verteidigungsgministerium falsch, als es kein Verfahren einrichtete, um Dr. Kelly nach Bestätigung seines Namens gegenüber der Presse sofort zu informieren.
Doch Dr. Kellys Auslieferung an die Aufmerksamkeit der Presse war nur einer Faktoren, die ihn unter Stress setzten. Einzelne Mitarbeiter des Verteidigungsministeriums versuchten, ihm zu helfen und ihn zu unterstützen. Und aufgrund seines sehr zurückgezogenen Wesens war Dr. Kelly kein einfacher Mensch.
Übersetzung: Dominic Johnson