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Archiv-Artikel

wiedergelesen: Rolf Dieter Brinkmann, Westwärts 1&2 Road Movie durch Traum- und Trümmerlandschaften

In der Serie „Wiedergelesen“ besprechen unsere Autoren norddeutsche Bücher, die vor langer Zeit erschienen, ihnen aber bis heute nicht aus dem Kopf gegangen sind

„Ich sagte zu dir,/ mach, was du willst,/ aber tritt mir bloß nicht/ auf die neuen Wildlederschuhe./ Einmal wegen des Geldes/ und dann wegen der Schau/ und schließlich sind die Schuhe so unwahrscheinlich blau.“

„Meine blauen Wildlederschuhe“, eines der schönsten und luftigsten Gedichte von Rolf Dieter Brinkmann (1940 – 1975), ist die Paraphrase des Carl-Perkins-Superhits „Blue Suede Shoes“. Glaubt man Johnny Cash, entstand der Song, als Cash seinem Kumpel Carl die Geschichte vom schwarzen Sergeant C. V. White erzählte. „Er war immer gut angezogen und kam nur in frisch gebügelter Uniform (...) Wenn er in mein Zimmer kam, fragte er regelmäßig: ‚Na, wie seh’ ich aus?‘ – ‚Meiner Meinung nach unheimlich schick, C. V.‘ – Dann sagte er: ‚Tritt mir bloß nicht auf meine blauen Wildlederschuhe, Mann.‘ Dann ging er zur Tür hinaus, wobei er mit den Fingern schnippte. ‚Hey, C. V.!‘, schrie ich ihm nach. ‚Das sind die regulären Airforce-Treter und keine Wildlederschuhe!‘ – ‚Heute Abend, wenn ich in die Stadt gehe, sind es blaue Wildlederschuhe!‘, rief C. V. und lächelte zurück. ‚Das ist eine großartige Idee für einen Song‘, meinte Carl dann. ‚Deswegen hab ich dir die Geschichte ja auch erzählt‘, antwortete ich.“

Es geht in dem Song also um Stil und Selbstbewusstsein, letztlich um die Imagination, die Kraft zur Transzendierung der schnöden Wirklichkeit. Eigenschaften, die für eine empfindsame Seele wie Brinkmann, der im „Schweinelandstrich“ Vechta aufwächst („viel krüppeliges Grünzeug, katholisch verseucht“), überlebenswichtig sind. In den Fünfziger Jahren lernt man das am leichtesten vom Elvis oder Little Richard. Später, als Brinkmann schon ein veritabler Dichter ist, nutzt er die amerikanische Beatnik-, Pop- und Trivialpoesie, um „die verfluchten Trampelpfade der Literatur“ zu verlassen. 1969 veröffentlicht er mit Ralf-Rainer Rygulla die US-Underground-Anthologie „Acid“ und schreibt kurz vor seinem tragischen Unfalltod – Brinkmann läuft 1975 in London vor ein Auto – „Westwärts 1 & 2“, den (ge)wichtigsten Beitrag deutscher Nachkriegslyrik.

„Meine blauen Wildlederschuhe“ sucht man darin allerdings vergebens. Nach einem Roman, einem Dutzend Erzählungen und zehn Gedichtbänden ist Brinkmann Ende der Sechziger drauf und dran, die Literatur zu beerdigen. Zumindest glaubt er nicht mehr daran, dass es reicht, „Gedichte einfach genug zu machen, wie Songs“. Die Hippie-Utopien sind verflogen und Kollegen wie Enzensberger fordern den Dienst an der Rekonstruktion des historischen Materialismus (Habermas), den Andres Baader im Stile John Dillingers zu etablieren gedenkt. Brinkmann beklagt den „Befehlston“, das „Zaundenken ringsum“ und die verkniffene „Lustverweigerung“, nennt die „Ziviehlisation“ eine Schrotthalde, Deutschland ein „Niemandsland“ und „Todesterritorium“.

Die eigene Biographie wie das Schreiben scheint ihm verloren zwischen den „Wortbarrieren“ und dem Nicht-, respektive Unsinn der Bedeutungsebenen. Desillusioniert, mittellos und von den schriftstellernden Revolutionstrompetern als Vertreter der „reinen Innerlichkeit“ diffamiert, sitzt Brinkmann im verhassten Köln und fragte sich: „Was ist mit der Poesie? Was ist mit den Dichtern? Sind sie alle in Konkurrenz mit Soziologen, Psychologen, Linguisten, Strukturalisten, Biologen, Medizinern, Pathologen getreten?“ („Ein unkontrolliertes Nachwort zu meinen Gedichten“, Westwärts 1 & 2)

Eine rhetorische Frage, die Brinkmann mit Rückzug beantwortet. „Ich bin mit Fritz Mauthner der Ansicht, dass Sprache, Wörter, Sätze zur Welterkenntnis völlig untauglich sind“, wird er auf einer Tonbandaufnahme von 1973 erklären und fünf Jahre lang nichts mehr veröffentlichen. Untätig ist er nicht. Sein Gebot der Stunde heißt: Wirklichkeit „beobachten, auseinander nehmen, neu zusammensetzen“.

Das Resultat seiner Überlegungen, Westwärts 1 & 2, erscheint 1975, ein Opus Magnum und Trumm von Gedichtband wie man ihn hierzulande noch nicht gesehen hat. Flankiert von schwarzweißen Polaroids, auf denen Betonwüsten und blattlose Strünke dräuen, entfaltet sich vor dem Leser ein Textgewebe sinistrer Großartigkeit. „Momentaufnahmegedichte“ und düsteren Allegorien, Cut ups, Montagen und Songfragmente, Wortkaskaden und Assoziatonsfetzen, Lakonisches und Hasstiraden, Romatizismen und Biografiesedimente verfugt Brinkmann zu einem Road Movie durch die Traum- und Trümmerlandschaften des Abendlandes, dessen formsprengend freie, gleichwohl raffiniert austarierte Rhythmen klingen, als hätten Heraklit, der Zen-Meister Han Shan, Nietzsche, Rimbaud, Benn, Burroughs und Jack Kerouac gemeinsam den Soundtrack geliefert.

„Jetzt bin ich aus/ den Träumen raus, die über eine/ Kreuzung wehn. Und Staub,/ zerstückelte Pavane, aus totem/ Neon, Zeitungen und Schienen/ dieser Tag, was krieg ich jetzt,/ einen Tag älter, tiefer und tot?/ Wer hat gesagt, dass sowas Leben/ ist? Ich gehe in ein/ anderes Blau.“

Wie es dort aussieht, lässt sich in einer im Sinne des Dichters restaurierten, das heißt um 22 bis dahin unveröffentlichte Gedichte sowie das „unkontrollierte Nachwort“ ergänzten Rowohlt-Ausgabe aus dem Jahr 2005 wiederlesen. MICHAEL QUASTHOFF

Rolf Dieter Brinkmann: Westwärts 1 & 2, Rowohlt Verlag 2005, 29,90 Euro. Weiterhin erhältlich ist die alte, gekürzte Taschenbuch-Ausgabe für 9,90 Euro