: Sie verehrt, verachtet ihn
aus Caracas INGO MALCHER
Sie hat am Nachmittag nur kurz den Fernseher eingeschaltet. Fünf Stunden und 26 Minuten lang hat Präsident Hugo Chávez dort live im Staatssender „Venezuela Televisión“ wie ein Wirbelsturm geredet. Ohne Gnade fiel er über seine „faschistischen Gegner“ her, überdreht und aufgekratzt versprach er, sich niemals kleinkriegen zu lassen. Sieg oder Niederlage. Zehn Silben pro Sekunde. Nach 20 Minuten Trance-Talk drückte sie auf den Knopf der Fernbedienung: Aus. Länger hält sie nicht durch. Sie ist enttäuscht. „Das ist nicht mehr der Hugo, den ich kenne“, sagt sie. Dabei kannte sie ihn gut.
Herma Marksman, 53 Jahre alt, war neun Jahre lang die Geliebte von Hugo Chávez. Sie hat mit ihm den Putsch von 1992 geplant, den politischen Aufstieg vorbereitet. Und sie hat seine Tagebücher und Briefe aufbewahrt – bis heute.
Sorgfältig sind die Papiere im roten Ledereinband editiert. Ein Band für das Tagebuch, einer für die Briefe und einer für die Klassenarbeiten Chávez’ aus der Militärakademie. Die Historikerin Marksman weiß, dass sie einen Schatz in ihrem Schrank lagert. Als Chávez Präsident wurde, bot sie ihm an, ihm die Briefe und Tagebücher zurückzugeben. In einem Brief antwortete er: „Sie sind in allerbesten Händen und gehören dir.“
Sie legt die Bände auf dem Esstisch in sicherer Entfernung ab, damit man sie sich nicht nehmen kann und damit durchbrennen, während sie aus dem Schlafzimmer eine abgewetzte Aktentasche holt. Darin sammelt sie Souvenirs. In einer Blechdose liegen zwei kastanienbraune Locken. Chávez’ erster Haarschnitt, geschnitten von der Großmutter Rosa Inés, die er nur Mama Rosa nannte und die ihn großgezogen hat. Neben der Dose liegen seine ersten Schulterabzeichen aus der Armee. Und dann ist da noch eine Karte. Vorne ein Schwarzweißfoto von Chávez’ Urgroßvater mit Pferd und Gewehr, der als Guerillero gegen den Diktator General Juan Vicente Gómez kämpfte. Auf der Rückseite steht: „Liebe Herma, du bist die ideale Frau. Ich liebe dich, Hugo, 18. 12. 1990.“
Marksman liebt Chávez nicht mehr. Aber er lässt sie auch nicht mehr los. Sie weigert sich, mit ihm abzurechnen, spricht mit Respekt von ihm. Ein liebenswürdiger Partner war er und schüchtern bei ihrer ersten Begegnung. Sie zieht aus der Aktentasche die Visitenkarte hervor, die er ihr zusteckte. „Hugo Chávez Frías, Hauptmann (Heer), Militärakademie von Venezuela.“ Auf der Rückseite ist handschriftlich das Datum des Treffens notiert: 27. April 1984. Marksman, deren Vater 1940 von Deutschland nach Venezuela ausgewandert war, war gerade mit ihren Kindern nach Caracas gezogen. Sie wohnte bei Freunden, und Chávez kam vorbei, weil er eine Siegesfeier seiner Baseballmannschaft organisieren wollte. Sie verliebten sich.
Im Militär gehörte Chávez einer Verschwörertruppe an. Marksman kam erst langsam dahinter, als sie beim Putzen eine Mao-Bibel fand. Der angepassten Historikerin war das verdächtig. Sie stellte ihn zur Rede, er gestand. Nachts schlich Chávez zu geheimen Treffen mit Kameraden aus der Militärakademie. Bei Maisfladen und Rum schaukelten sie sich gegenseitig hoch und planten von 1983 an den bewaffneten Umsturz in Venezuela. Marksman schloss sich der Gruppe der Verschwörer an und wurde ihr ideologischer Kopf. Wie alle euphorischen Weltverbesserer hatten sie viel vor: ein Land ohne Armut, ohne Korruption. „MB-200“ nannten sie ihre Geheimloge. „MB“ für „Movimiento Bolivaríano – Bolívarische Bewegung“. 200 für das Gründungsjahr 1983 – den 200. Todestag von Simón Bolívar, den Helden der Befreiung von den spanischen Kolonialherren.
Bolívar hat Chávez erst nach seinem Eintritt in die Militärakademie im Jahr 1971 für sich entdeckt. Vorher hat er sich nicht besonders für Politik interessiert. An Versammlungen des kommunistischen Jugendverbands in seinem Dorf Sabaneta, im Südwesten des Landes, nahm er nur selten teil. Und eigentlich wollte Chávez Baseballspieler werden.
Aber schon bald hatte er anderes im Sinn. Marksman liest eine Stelle aus seinem Tagebuch aus dem Jahr 1974, als Carlos Andrés Pérez, ehedem Präsident des Landes, zum Sportfest der Militärakademie kam: „Ich beobachte den Präsidenten, hoffentlich werde ich eines Tages die Geschicke des Landes dirigieren.“
Damit hatte er sich entschieden. Chávez entwickelte einen unermüdlichen Ehrgeiz, studierte an der Militärakademie „Kunst und Wissenschaft des Krieges“. Marksman blättert in dem Band seiner Klassenarbeiten. Er hatte niemals weniger als 89 Punkte von 100 möglichen. „Er ist klug“, sagt sie nachdenklich und fixiert lange einen der Tests. Da ist wieder dieser schüchterne Respekt für ihren Exliebhaber. Marksman hat zu Chávez ein gespaltenes Verhältnis. Sie verehrt ihn. Und verachtet ihn.
Trotz hervorragender Zensuren war die Zeit der Studien für Chávez eine Qual. „Sturm unter Pinien“ hat Herma Marksman auf den roten Ledereinband mit den Klassenarbeiten drucken lassen. Es klingt bemitleidend. Sturm, weil er auf der Schulbank so sehr gelitten hat. Pinien, weil es in der Kaserne so viele Pinienbäume gab.
Unter den Bäumen saß Chávez regelmäßig, paukte Marinestrategien und Militärgeschichte. Bis heute denkt er in allen Lebenslagen wie ein General auf dem Schlachtfeld. Auch in der Politik gibt es für ihn nur Sieg oder Niederlage. Diese Lebensweisheiten hält er für unverzichtbar. Als er am 23. August 1980 in ein Flugzeug steigen soll, fürchtet er abzustürzen. Vor dem Start schreibt er für seine Töchter eine Anleitung fürs Leben, die aber auch von seiner Großmutter Mama Rosa hätte stammen können. In Computerschrift heißt es: „Ihr müsst für Menschen kämpfen, die leiden und eine bessere Welt wollen, ihr sollt den Weg zum Kampf wählen, müsst aber studiert haben und verstehen, was im Land und der Welt passiert (…) treibt Sport, denn ein gesunder Geist wohnt in einem gesunden Körper, lernt in der Öffentlichkeit zu reden, liebt, aber wisst zu leben, ihr müsst bereit sein, für den Geliebten euer Leben zu geben.“
Den Brief an die Töchter hat er nie abgeschickt, da er den Flug mit der Verkehrsmaschine ja überlebt hat. Er ist nur in Marksmans Sammlung enthalten. Sie schlägt das Buch zu und sagt: „Er ist intelligent, aber leider verrückt geworden.“
Verrückt wurde er nach ihrer Ansicht im Gefängnis. Dort sei er verehrt worden wie ein kleiner Gott – und das, obwohl er als Putschist versagt hatte. Denn Chávez, Marksman und die verschworenen Militärs beließen es nicht bei den nächtlichen Geheimtreffen. Im Jahr 1992 hatten alle Akademiekameraden den Rang eines Oberstleutnants und alle befehligten Regimenter. Im Präsidentenpalast in Caracas saß Carlos Andrés Pérez. Er regierte das Land wie ein korrupter Fürst. Der Zeitpunkt schien perfekt.
Punkt Mitternacht am 4. Februar 1992 schlugen sie los. Um 0.45 Uhr war bereits die wegen ihres Ölreichtums so wichtige Provinz Zulia gefallen. Andere Orte wurden ebenfalls im Handstreich genommen. Nur Caracas nicht. Dort wollte Chávez den Präsidentenpalast stürmen und Andrés Pérez festnehmen. Aber die Regierungstruppen waren erstaunlich hartnäckig. Der Lauf war gebremst. Chávez war wie paralysiert. Er ergab sich.
Am nächsten Morgen erwachte er im Gefängnis und erfuhr, dass nur er gescheitert war – alle Verschwörer hatten ihre Ziele gemäß Plan erobert. Da trat ein Kommandant in seine Zelle und bat ihn darum, im Fernsehen seine Kameraden zur Aufgabe aufzufordern, es gelte ein Blutbad zu verhindern.
Chávez erkannte seine Chance. Er bat um sein rotes Barett und um seine Uniform. Er wusch sich das Gesicht, um nicht auszusehen wie ein Bandit. Als sich das Gefängnistor öffnete, stand Chávez vor dutzenden Kameras und Mikrofonen. Es waren die bedeutendsten 70 Sekunden seines Lebens. Er sagte: „Guten Morgen, Volk von Venezuela, diese Botschaft ist für meine Kameraden, ihr habt gute Arbeit geleistet, wir hier haben unser Ziel nicht erreicht.“ Weiter: „Ich übernehme die Verantwortung für den bolivarischen Aufstand. Ich ergebe mich … fürs Erste.“ Fürs Erste! Dieser Nachsatz machte aus ihm einen Helden. Es war klar: Er wird wiederkommen.
An manchen Tagen standen über 40 Besucher vor dem Gefängnis, um von Chávez ein Autogramm zu erbetteln. Marksman sagte zu ihm: „Pass auf, dass dir das nicht zu Kopf steigt, du wirst verehrt wie ein Messias.“ Er antwortete: „Ich stehe mit beiden Füßen auf dem Boden.“ In Wirklichkeit sei er aber abgehoben und habe schon damals die Realität nicht mehr wahrnehmen können, sagt sie. Marksman ertrug sein übersteigertes Selbstbewusstsein und seine Großmäuligkeit nicht mehr.
Chávez saß noch im Gefängnis, als sie sich von ihm trennte. „Ich sagte zu ihm, bis hierher bin ich mitgekommen, weiter gehe ich nicht.“ Dann verließ sie seine Zelle. Es war der 28. Juli 1993. Auf einen langen Brief von ihr hat er nie geantwortet. Sie sprachen nur noch ein einziges Mal miteinander. Als 1999 ihre Mutter starb, rief er an, um sein Beileid auszudrücken. Damals war er schon gewählter Präsident.
Marksman hat die Seiten gewechselt. „Sein Projekt ist nicht mehr meins.“ Chávez schwadroniere von einer obskuren Revolution, die keiner im Land wolle. Er ist ihr zu radikal, zu vernarrt in seine Ideen. Aus ihrem vergitterten Fenster im 14. Stock einer Hochhauswohnung hängt die blau-rot-gelbe venezolanische Fahne, das Symbol der Opposition. An der Wand daneben eine Trillerpfeife. „Das sind unsere Waffen gegen ihn.“ Aber sie glaubt: „Es wird ein Blutbad geben.“ In der Nachbarwohnung spielt jemand Schlagzeug. Der Boden bebt.
Herma Marksman sagt noch an der Tür: „Viele sagen, dass Chávez ein anderer Präsident wäre, wenn ich noch an seiner Seite wäre.“ Sie klingt stolz, zuckt dann die Schultern, die Tür fällt ins Schloss.