: Die Meinung und die Meinung der anderen
Zwischen Opferdiskurs und Kritik an den eigenen Regimes schwankte die Berichterstattung auf al-Dschasira während des Golfkrieges. Der Sender zeigte sich dabei so orientierungslos und widersprüchlich wie die arabische Welt selbst – aber auch als wichtiges Medium der Demokratisierung. Ein Resümee
von SÉLIM NASSIB
Als die Panzerdivisionen der USA und Großbritanniens Ende März die irakische Grenze überschritten, erwarteten sie die Journalisten von al-Dschasira in den wichtigsten Städten des Landes. Sie sind nicht die Einzigen: Die gesamte Weltpresse hat sich im Irak ein Stelldichein gegeben. Aber sie sind etwas Besonderes: Sie sprechen arabisch, und sie haben den Finger am Puls der arabischen Welt. Ihr Publikum wird auf rund vierzig Millionen Zuschauer geschätzt. Die Art und Weise, mit der sie den Konflikt begleiten, ist von größter Bedeutung für alle, die sich für die öffentliche Meinung in der arabischen Welt interessieren – angefangen mit George Bush, Tony Blair und Saddam Hussein.
Von Anbeginn des Einmarsches an bleibt der Satellitensender, der 1996 nach dem Vorbild von CNN vom Emir von Katar gegründet wurde, seinem Motto treu, das routinemäßig auf dem Bildschirm erscheint: „Die Meinung und die Meinung der anderen“.
Dieser Slogan, der wie ein journalistischer Gemeinplatz erscheinen könnte, stellt in der arabischen Welt eine Revolution dar. In der Zeit vor al-Dschasira waren Marokkaner, Ägypter, Syrer oder Saudis im Prinzip so etwas wie Geiseln ihrer nationalen Fernsehprogramme, die ihnen nichts anderes als die Sichtweise ihrer jeweiligen Regimes boten.
1991 konnten dann jene, die eine Satellitenschüssel besaßen, CNN empfangen – das Fernsehen des „Feindes“, wenn man so will –, um den ersten Golfkrieg zu verfolgen. Zwölf Jahre später haben sie nun al-Dschasira – „ihr“ Fernsehen. Und dieses surft auf einer Antikriegsstimmung, die sich fast über den gesamten Nahen Osten erstreckt. Mit Blick auf die Demonstrationen, welche ganz Europa, Amerika und Asien erschüttern, haben die Araber auf einmal den Eindruck, ein Teil der Welt zu sein.
Al-Dschasira richtet seine Berichterstattung über Krieg nach der öffentlichen Meinung, die sein Programm sieht und hört: Saddam Hussein war dort niemals besonders populär gewesen (auch wenn seine mannhaften Beschwörungen des Widerstands sein Ansehen etwas aufpoliert haben dürften), und der US-Einmarsch wird als illegitim, illegal und skandalös begriffen. Vor allem ist es schließlich das irakische Volk, von Kriegen und Entbehrungen gezeichnet, das zuvorderst sein Opfer wird.
Vor diesem Hintergrund erhalten alle Konfliktparteien die Gelegenheit, lang und breit ihre Standpunkte darzulegen. Der erste Zusammenstoß tritt ein, als der Sender die Bilder amerikanischer und britischer Kriegsgefangener ausstrahlt, die das irakische Fernsehen gefilmt hatte. Die Wortführer der beiden Länder beschuldigen den Sender öffentlich, „die Genfer Konvention missachtet und die Grenzen des Anstands überschritten“ zu haben. Etwas später ist es an den irakischen Autoritäten, sich zu echauffieren: Zwei Journalisten des Senders werden ausgewiesen, ohne dass man ahnt, was ihnen genau vorgeworfen wird. Der irakische Informationsminister will lediglich, dass sie vom Bildschirm verschwinden.
Al-Dschasira weigert sich, sich diesen Anweisungen zu fügen, und setzt unverzüglich seine gesamte Berichterstattung aus dem Irak aus. Von einem Tag auf den anderen gibt es keine Korrespondenten mehr auf den Straßen von Bagdad und Basra, keine Kommentare mehr über die Stimmung in den Städten unter Bombardement, keine Reportagen aus den Krankenhäusern mehr. Drei Tage geht das so, dann gibt das Regime in Bagdad nach, und die Journalisten von al-Dschasira nehmen ihre Arbeit wieder auf, als wenn nichts gewesen wäre. In der Zwischenzeit gelingt es dem Sender unauffällig, den Beweis für seine Unabhängigkeit gegenüber der Macht Saddams zu liefern. „Die Bevölkerung Bagdads hat doppelt bezahlt“, sagt ein Kommentator des Senders. „Nachdem sie ein Regime ertragen musste, das manche als ein großes Gefängnis beschreiben, lässt sie gegenwärtig die Bomben ihrer ‚Befreier‘ über sich ergehen.“
Al-Dschasira denkt nicht daran, sie so zu nennen. In dem Augenblick, in dem Bagdad fällt, schlägt eine Bombe der US Air Force mit voller Wucht in ihrem Büro in der Hauptstadt ein und tötet Tarek Ajub, einen seiner Korrespondenten. Die Mannschaft des Senders ist völlig fassungslos. Tags zuvor war ein Fahrzeug des Senders von amerikanischen Soldaten, die es kontrollieren wollten, mit dem Maschinengewehr zersiebt worden. Kurz davor war seine Internet-Seite von einem Hackerangriff aus den USA außer Gefecht gesetzt und sein Korrespondent von der New Yorker Börse verwiesen worden. In diesem Klima wirkte der Tod von Tarek Ajub nicht wie ein Unfall, sondern wie das Resultat einer gezielten Handlung.
Fast im gleichen Moment fiel das Regime von Saddam Hussein in sich zusammen, seine Statuen fielen im ganzen Land, und die Freudenschreie eines Volks, das nun trotz allem befreit war, erhallten. Auch wenn es mit dem Herzen nicht so recht dabei sein mochte, so folgte al-Dschasira den Ereignissen doch, wie es sich gehört, zeigte die Schläge mit dem Schuh, die den Porträts von Saddam beigebracht wurden, die Pracht und den Prunk seiner verwüsteten Paläste wie auch die Schrecken seiner Folterkammern.
Mit eigenen Augen konnte die arabische Welt sehen, was gemeinhin mit orientalischem Despotismus gemeint ist. Das begleitetende Gefühl aber ist nicht ohne Ambivalenz.
In den Wirren der Befreiung vervielfachten sich die Szenen der Raubzüge und der Plünderungen, insbesondere in den Krankenhäusern und Museen. Weil die siegreichen Soldaten nichts tun, um diesen Auswüchsen Einhalt zu gebieten, geben diese einer vertrauten, paranoiden Sichtweise Raum: Die Amerikaner geben vor, Freiheit und Demokratie bieten zu wollen, aber in Wirklichkeit bringen sie nichts als Unglück und Chaos.
Mit der allmählichen Rückkehr zu relativer Ordnung in den irakischen Sädten tauchen andere Szenarien auf: die Einsetzung eines irakischen Regimes in Diensten der USA sowie die religiösen, ethnischen und tribalen Spannungen und der vielfache Wunsch nach Vergeltung, der die Gefahr eines Bürgerkriegs gefährlich real werden lässt.
Die Warnungen an Syrien und die israelischen Forderungen, welche durch die USA an dieses Land weitergeleitet werden, tragen nicht dazu bei, die guten amerikanischen Vorsätze glaubwürdig erscheinen zu lassen. Einmal mehr gewinnt die These von der „Verschwörung“ die Oberhand.
Diese „Verschwörung“ mag es geben, selbstverständlich. Aber sie befreit die arabische Welt in keiner Weise von der Notwendigkeit, über die Willkür der Regimes nachzudenken, welche sie regieren und welche Auswege es aus dieser Situation gibt.
Al-Dschasira hat nicht den Anspruch, dieses Problem zu lösen. Der Sender ist, was er ist, genauso orientierungslos und widersprüchlich wie die arabische Welt selbst. Aber er gibt jenen das Wort, welche allen das Dilemma vor Augen führen: wie der Aggression von außen Widerstand leisten, ohne sich unter dem Banner der eigenen Tyrannen zu versammeln? Wie der Demokratie beipflichten, ohne sich unter das Banner der Vereingten Staaten zu scharen?
„Im Grunde“, sagt ein Analyst auf dem Sender, „haben die Amerikaner eingegriffen, um eine Leere zu füllen, die wir, die Araber, selbst geschaffen haben. Lateinamerika und Osteuropa haben für sich die Demokratie gewonnen, während wir außerhalb der Geschichte geblieben sind, gefangen zwischen dem amerikanischen Imperialismus und dem Despotismus unserer eigenen Regimes. Die einzige Lösung für uns ist es, uns in Beweung zu setzen, unsere Zivilgesellschaften mit Leben zu füllen, die Freiheit der Presse zu festigen und durch Wahlen unsere Parlamente zu bestimmen. Wir sind dazu fähig!“
Al-Dschasira hütet sich davor, auf diese Einschätzung zu antworten. Es hat sich darauf beschränkt, das Informationsmonopol zu brechen, das von den arabischen Regimes für lange Zeit aufrecht gehalten wurde, und jene Regeln ins Recht zu setzen, welche seine Journalisten während ihrer Arbeit bei der BBC oder anderswo gelernt haben.
Allein mit diesen Mitteln ist es mehr als nur ein Fernsehsender geworden, vielmehr ein implizites Instrument der Demokratie.