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Archiv-Artikel

Der Held ist Tod

Wahrer Reichtum kommt aus dem Keller: Sprengel Museum Hannover serviert seinen Gesamtbestand der Werke James Ensors zum Genießen für Zwischendurch

Eine Menschenmenge tobt durch eine Häuserschlucht, die Gesichter grinsen panisch

Was in einigen Museen im dunklen Keller herumtrödelt, wäre für andere eine sensationelle Ausstellung. Warum nur für andere? Anstatt mal hier und dort was zu verleihen und um im Zeitalter knapper Kassen selbst kostengünstig neue Schauwerte präsentieren zu können, öffnet das Sprengel Museum Hannover die Depots: Der Gesamtbestand der Werke James Ensors aus der Sammlung wird jetzt einfach mal so zum Genießen serviert.

Da deutsche Museen sowieso mit Werken des neben Paul Delvaux und René Magritte dritten Großen der belgischen Moderne unterversorgt sind, ist man umso dankbarer, den Großmeister der Groteske und Vorläufer von Expressionismus und Surrealismus einmal ausführlicher begutachten zu können. James Ensor (1860 - 1949), zunehmend verbittert von der öffentlichen Ablehnung, zog sich früh in seine Heimatstadt Oostende zurück. Aus dem kunstprovinziellen Abseits des Nordsee-Badeorts führte er seine spöttischen Kreuzzüge gegen die Gesellschaft, wurde aber auch – als Turner-Fan – zum Anbeter des Lichts und Gestalter der Farben.

Jahrzehntelang wohnte und arbeitete Ensor in der Mansarde seines Elternhauses. Ausstaffiert mit Exotischem, maritimen Kitschprodukten und Karnevals-Tinnef wirkte das Atelier wie ein Souvenirlager des Geschäfts, das die Familie im Parterre betrieb.

Hannover macht jetzt mit einer der Folgen dieser Inspirationsquelle bekannt: dem satirischen Symbolismus, der die Realität kurios und karnevalesk ins Fantastische dehnt. Wir begegnen Ensor als Zeichner und Grafiker. Während seiner künstlerisch fruchtbarsten Zeit, der 1880er- und 90er-Jahre, beschäftigte er sich intensiv mit der Radierung, „entzündet am lächelnden Antlitz des groben Spotts vor den Delikatessen der Malerei“, wie der Künstler schrieb.

Die meisten grafischen Blätter erwecken die bösen Geister im Urbanisierungs-Zeitalter der industriellen Revolution, zeigen das Gesicht der Masse als das von Opfern und Tätern zugleich. Vor deren Anonymität, Gewalt, Verführbarkeit graute es dem Individualisten genauso, wie vor dem Nichts hinter der grinsenden Maske der Welt.

Bruchstückhaft kreisend, karikaturistisch skizzierend setzte er die Umrisslinien, ließ sie ineinander übergehen, so dass Figuren zur gesichtslosen Menge verschwimmen. Bestes Beispiel: „Die Kathedrale“ (1886) als Fantasie eines gotischen Sakralbaus. Aus der monströsen Kirchenarchitektur lösen sich die Volksmassen heraus oder verschmelzen mit ihr – je nach Perspektive. Unklar bleibt, ob es sich in dieser bedrohlichen Wechselwirkung um Aufstand oder Mummenschanz handelt.

Als wäre Ensor ein später Erbe Boschs und Breughels, so bevölkern Monster und dämonische Gruseleffekte seine Werke: Allgegenwärtig lächelt der Sensenmann. Dabei offenbart sich die für Ensor typische Angst vor der Leere. Besonders albtraumhaft breitet sich diese Atmosphäre in „Triumph des Todes“ von 1896 aus: Eine Menschenmenge tobt durch eine sehr enge Häuserschlucht, die Gesichter grinsen panisch und sehen doch schicksalsergeben aus, gleichgültig, während satanische Heerscharen in die pulsierende Stadt einschweben.

Mit solchen Bildern stellt sich Ensor auch in die Tradition mittelalterlicher Totentänze, des Memento Mori im todkranken Leben. In dem nur Christus immer wieder als Lichtgestalt auftritt, von der grölenden Menge verspottet.

Christlich aber ist Ensors Botschaft keineswegs, obwohl er seine eigenen Gesichtszüge gern dem Erlöser leiht. Als Außenseiter empfand sich der Maler. Genau das zeigt die Identifizierung mit Christus. Häufig stilisiert er sich als Märtyrer der Kunst. Ein delikater Augenschmaus für zwischendurch – bis sich Sprengels wieder eine teure Sonderschau leisten. Jens Fischer

Bis 18. April, dienstags 10 - 20 Uhr, mittwochs bis sonntags 10 - 18 Uhr