: Der alte Soldat und die Strahlung
AUS BERLIN KIRSTEN KÜPPERS
Als an einem Nachmittag im Februar das Telefon klingelt und Rudolf Pikos die gute Nachricht erfährt, die sich vorher schon durch den Fernseher angekündigt hat, kommt eine leise Freude auf. „Na ja, Gott, ist man doch nicht vergessen worden“, ruft er. „Eine Kleinigkeit immerhin.“ Es ist kein ausgelassenes Glück, das sich breit macht. Mehr eine Zufriedenheit darüber, wie sich die Dinge entwickeln. Rudolf Pikos ist ein kleiner Mann mit einer getönten Brille, 60 Jahre alt, und es ist wohl auch der Krebs, der ihn vorsichtig gemacht hat. Pikos steht im Wohnzimmer seiner Doppelhaushälfte in Berlin-Spandau, er nickt und guckt auf den Teppich.
Draußen vor der Terrassentür müssen die Gartenmöbel noch gestrichen werden, es gibt Aufgaben zu erledigen, die Ordnung geht weiter, und sowieso ist Rudolf Pikos keiner, der Sektflaschen entkorkt, wenn der Erfolg endlich kommt. Dazu war die Sache mit den Metastasen auf der Leber zu bedrohlich, dazu waren die Operationen zu groß, da sind noch die Tropfen jeden Morgen gegen die Schmerzen, und eine Ahnung bleibt. Für ein Fest war die Erfolgsmeldung auch einfach zu klein.
Die Zusatzrente ist sicher
Wenigstens eine Zusatzrente ist ihm als ehemaligem militärischem Radartechniker jetzt zugesprochen worden, das hat ihm sein Anwalt ausgerichtet. Pikos steht im Zimmer und erzählt, zieht seinen Pullover glatt. Er ist der erste der Kläger, der die Zusage auf eine Rente erhalten hat. Aber er hat keine Ahnung, wie viel Geld er kriegen wird. 300 Euro, hat mal jemand in einer Fernsehsendung gesagt, aber Pikos weiß nicht, wann die erste Überweisung von der Bundeswehr kommt. Und die Angelegenheit geht noch weiter, denn Pikos will nicht nur eine Rente, er wartet auf Schadenersatz. Er guckt Nachrichten, der Fernseher läuft den ganzen Tag.
Zum Beispiel begann gestern in Bonn ein Musterprozess. Fünf ehemalige Soldaten der Bundeswehr haben eine Klage eingereicht wegen der Radarstrahlen. In zwei Wochen beginnt in Frankfurt (Oder) eine ähnliche Verhandlung. Dort ist es ein früherer Soldat der Nationalen Volksarmee der DDR (NVA), der klagt. Dort wird das Gericht entscheiden, ob die Bundeswehr die Rechtsnachfolge antreten und Entschädigung zahlen muss. Ein solches Urteil würde für Pikos weiteres Geld bedeuten. Es könnte heißen, dass ein Stück Gerechtigkeit in das Leben von Rudolf Pikos rutscht, selbst wenn er nicht gerne mit solch großen Begriffen hantiert.
Pikos ist 32 Jahre lang Soldat gewesen. Da bleibt viel – eine Wachsamkeit, die auch das Private durchzieht, ein Schnarren in der Stimme, das anhält, wenn er mit Jeans und Pantoffeln durchs Zimmer läuft. Vor allem eine Nachgiebigkeit gegenüber den Vorgesetzten, über die man das eigene Leben schnell vergisst. Als Soldat gibt es einfach Befehle und Uniformen und die Zeit, die alles weitertreibt. Erst war Pikos bei der NVA, dann bei der Bundeswehr. Er hatte jahrelang Feindbilder im Kopf, und später wurden die Feinde zu Nachbarn, mit denen man im Sommer auf der Terrasse sitzt und Würstchen grillt. Pikos hat getan, was andere verlangt haben. „Ich habe einfach immer für Volk und Vaterland gedient, wie man so schön sagt“, meint Pikos. Er steht am Fenster, die Arme verschränkt, er schweigt. Die Doppelhaushälfte gehört zu einer Bundeswehrsiedlung, er guckt auf die Kasernengebäude gegenüber.
Vielleicht ist es also eher eine Kameradschaftlichkeit, die kommen müsste. Pikos steht aufrecht, sieht nach draußen. Eine Ruhe, die etwas Angestrengtes hat. Auf der Terrasse wartet die Hollywoodschaukel. „Es hat ja keiner freiwillig an den Geräten gearbeitet“, meint Pikos plötzlich. Ein kurzer Satz. Ein Satz, der reichen müsste für das Bundesverteidigungsministerium. Die Auskunft eines kranken Mannes, die genügen sollte für eine Entschädigung.
Pikos hatte seit 1963 mit den Geräten zu tun. Die Maschinen wurden zur Luftraumüberwachung auf dem Militärflugplatz Marxwalde eingesetzt. Als Radartechniker hat Pikos Achtstundenschichten in der Funkmessstation geschoben. In der restlichen Zeit musste er die Radargeräte warten, er hat Messungen durchgeführt direkt vor der Strahlenquelle. Wenn er aus der Kälte kam, hat er sich die Hände an den Röhren gewärmt. Er und seine Kollegen trugen keine Schutzkleidung, es gab keinen Arzt, der sie untersuchte. Manchmal habe ein Offizier gesagt, sie sollten sich nicht so lange in der Strahlung aufhalten, sie könnten impotent werden. „Wir haben gelacht. Wir haben Familien gegründet“, Pikos lächelt schief. „Alle haben Familien gegründet und Kinder gekriegt. Keiner von uns hat das geglaubt.“
Krebs und Operationen
Die Ahnung kam erst viel später, als Pikos nicht mehr für die DDR, sondern für die Bundesrepublik als Funk- und Radartechniker arbeitete – als vor drei Jahren die Schmerzen anfingen. Als der Krebs längst über Darm und Leber gewachsen war und der Arzt ihm zwei Operationen später einen Zusammenhang mit seiner früheren Tätigkeit an den Radargeräten nahe gelegt hatte. Pikos hat mehrere Berichte im Fernsehen gesehen, die Sendungen zeigten ehemalige Bundeswehr- und NVA-Soldaten, die sagten, dass sie Strahlenopfer seien. Sie forderten Schadenersatz von der Bundeswehr. Erst da wuchs in Pikos die Idee eines Anspruchs. Er hat sich hingesetzt und hat ein Paket geschnürt, dort hinein legte er alle ärztlichen Atteste und Dienstzeugnisse von der Armee. Das Paket hat Pikos an ein Berliner Anwaltsbüro geschickt. Es war die Kanzlei, die auch im Fernsehen vorgekommen war.
Die Anwälte Reiner Geulen und Remo Klinger waren schon länger an der Sache dran. Pikos war nur einer, der dazukam. Für die beiden Rechtsanwälte hatte die Angelegenheit begonnen, als im Februar 2001 fünf Männer vor ihrer Tür standen und die Bundeswehr verklagen wollten. Einer von ihnen trug Uniform, sie erzählten von Radarstrahlung, von Röntgenapparaten und von den Krankheiten, die sie hatten, es war ein Grüppchen wütender, trauriger Männer, sie wedelten mit ärztlichen Attesten, die Gutachten bescheinigten Krebs und Herzrhythmusstörungen.
Inzwischen ist aus den fünf Männern eine große Versammlung geworden. Die Anwälte mussten ihr Büro umbauen wegen der vielen Akten, sie beschäftigen einen Studenten, der die Papiere ordnet. Sie vertreten jetzt etwa 900 Strahlenopfer. Insgesamt haben in Deutschland rund 1.100 frühere NVA-Angehörige und 1.800 Bundeswehr-Soldaten wegen der Krankheiten im Zusammenhang mit ihrem früheren Arbeitsplatz eine Versorgung beantragt. Denn das ist das Paradoxe, das hinzukommt: Im Westen und im Osten haben sie sich als Feinde belauert, aber in den Geräten, die sie dafür benutzt haben, steckten die gleichen Röhren. „Es ist unglaublich. Wir haben es mit der wahrscheinlich größten Opfergruppe des Kalten Krieges zu tun“, sagt der Anwalt Remo Klinger.
„Großzügig und schnell“
Vielleicht benutzt er deshalb dramatische Formulierungen, weil er ungeduldig wird. Klinger sitzt in seinem Büro und merkt, dass es nicht vorangeht. „Großzügig und schnell“ sollte die Regelung erfolgen, hatte der damalige Verteidigungsminister Scharping angekündigt, als die ersten Anträge gestellt wurden. Aber passiert ist fast nichts, sagt Klinger. Die Sache ist dringend. Die Mandanten sind krank. Inzwischen liegt beim Anwaltsbüro jede Woche eine neue Todesanzeige im Briefkasten.
Im Sommer 2002 hat der Verteidigungsausschuss des Bundestages eine Expertenkommission aus Wissenschaftlern, Technikern und Strahlungsspezialisten eingesetzt. Im vergangenen Sommer hat die Kommission empfohlen, Bundeswehrsoldaten, die bis 1975 gedient haben, und NVA-Angehörige generell zu entschädigen, wenn sie mit Radartechnik zu tun hatten und später an Krebs, Leukämie oder Grauem Star erkrankten. Das Verteidigungsministerium hat erklärt, die Empfehlungen umsetzen zu wollen.
Aber es gehe trotzdem nicht richtig weiter, meint Klinger. Es gebe immer neue Verschleppungen. Klinger blättert in seinen Aktenordnern. Erst für 237 Bundeswehrangehörige sind Zahlungen bewilligt worden. Für die ehemaligen NVA-Angehörigen sieht es noch schlechter aus. Die Bundeswehr hat inzwischen angekündigt, den Großteil der Antragsteller nicht zu berücksichtigen. Es bestehe kein Zusammenhang zwischen der Erkrankung und der Tätigkeit an Radargeräten in der NVA. Vielleicht liegt es an alten Gräben, vielleicht will die Bundeswehr ihren früheren Gegnern kein Geld zahlen. Klinger meint: „Das nicht überwundene Konfrontationsdenken ist wahrscheinlich ein entscheidendes mentales Problem bei der ganzen Sache.“ Er lächelt hilflos.
Fünf Bescheide – von 1.100
Fünf positive Bescheide an NVA-Soldaten hat das Ministerium rausgeschickt, Rudolf Pikos ist einer von ihnen. Fünf Zusagen bei 1.100 Anträgen. Klinger klappt den Aktenordner zu. Die Anwälte haben ihr Büro umgeräumt, sie kennen die Rechtslage, die Gutachten, sie machen weiter. Wenn in Frankfurt (Oder) der Musterprozess beginnt, wollen sie Schadenersatz erstreiten, dann geht es nicht nur um eine Rente, es geht um größere Summen. „Es sieht gut aus“, sagt Klinger. Er weiß, er muss den kranken Männern jetzt Mut machen.
In Spandau steht Rudolf Pikos in seinem Garten. Mit 400 Euro hat er sich an den Kosten für die Klage in Frankfurt (Oder) beteiligt. Es könnte sein, dass sich sein Einsatz lohnt. „Eine Entschädigung würde mich freuen“, erklärt Pikos knapp. Er steht auf dem Rasen, die Brillengläser sind ganz dunkel jetzt wegen der Sonne. Er muss regelmäßig zur ärztlichen Untersuchung. „Man muss abwarten“, sagt Pikos. Er wartet. Es könnte sein, dass die Bundeswehr ihre Gegner unterschätzt hat. Vielleicht hat sie gehofft, das alte System der Hierarchien würde weiterhin funktionieren.