: Nach der großen Karriere
„Meine Augen sehen den Film, das funkt im Gehirn, schießt in die Hände“: Morgen wird Willy Sommerfeld 99 Jahre alt. Er ist der älteste Stummfilmpianist, den die Welt hat. Eine Hommage
von KIRSTEN KÜPPERS
Morgen, am Sonntag, hat der Stummfilmpianist Willy Sommerfeld Geburtstag. 99 Jahre wird er alt. Es wird eine kleine Feier geben, seine Frau Doris wird irgendwas arrangieren. Der alte Willy Sommerfeld wird in einem Stuhl sitzen und die Leute werden kommen und gratulieren. Er ist der älteste Stummfilmpianist, den die Welt hat.
Unzählige Stummfilme hat Willy Sommerfeld in den letzten 30 Jahren auf dem Klavier begleitet. Vor allem im alten Kino Arsenal in der Welserstraße hat er seit 1972 gearbeitet. Ohne Noten und Arrangements – großartig vorbereitet hat sich Sommerfeld für diese Abende nie. Vor der Vorstellung hat er bloß seine Frau gefragt: „Ist es ein lustiger oder ein trauriger Film?“ Seine Frau hat das Plakat durchgelesen und entschieden. Dann hat sich Sommerfeld auf den Klavierhocker gesetzt, den Blick auf die Leinwand gerichtet und gespielt. Ein Versatzstück von Schostakowitsch oder Beethoven, eine Improvisation. Es ging einfach so. „Meine Augen sehen den Film, das funkt im Gehirn, das schießt in die Hände“, sagt Willy Sommerfeld. „Und weil ich sehr klein bin, geht das sehr schnell.“
Eigentlich hätte Willy Sommerfeld da schon ein stilles Rentnerleben führen können, so wie er das jetzt tut: jeden Tag ein bisschen auf dem Flügel spielen, der in der Wohnung steht, ein bisschen lesen, ein bisschen ausruhen. Die große Karriere war ja schon absolviert. Aber ein Kollege hatte ihn damals angerufen und gefragt. So ist es gekommen mit dem Kino. Und jetzt kennen die Menschen ihn vor allem als Begleitpianisten von großen alten Stummfilmen wie „Metropolis“ und „Sinfonie einer Großstadt“. Dabei war da vorher noch mehr.
Willy Sommerfeld kann in seiner Wohnzimmer sitzen in Charlottenburg und das alles erzählen. Aber noch besser kann das seine Frau. Willy Sommerfeld wartet dann einfach in seinem Sessel und hört zu, von draußen bricht die Sonne durch die Gardinen. Sein ganzes langes Leben kann Doris Sommerfeld in diesem Wohnzimmer ausbreiten, sie ist 27 Jahre jünger als er und trotzdem kann sie sagen, wie es war für ihn im Krieg und davor und danach, und Sommerfeld nickt. Nur bei persönlich oder künstlerisch wichtigen Punkten der Geschichte schickt Doris Sommerfeld ihren Mann an dem Flügel zum Spielen. Dann tastet sich Willy Sommerfeld an das große Möbel. Das halbe Zimmer nimmt es fast ein. Sommerfeld setzt sich an den Flügel, und wenn plötzlich der ganze Raum voll ist mit der Musik, dann ist es Doris Sommerfeld, die still und stolz dasitzt. Schon oft haben sie das probiert.
Willy Sommerfeld wurde also 1904 in Danzig geboren. Mit 16 kam er nach Berlin wegen eines Studiums am Konservatorium, ganz allein und ohne Geld. Eine Verdienstmöglichkeit war es, in einem Kinosaal am Wittenbergplatz Stummfilme auf dem Klavier zu begleiten. Wenig später ging Sommerfeld als Kapellmeister ans Staatstheater Braunschweig. 1933 wurde ihm dort gekündigt, weil er sich weigerte, nach der Vorstellung den Hitlergruß zu leisten. Fortan schlug er sich durchs Leben. Es war nicht einfach. Er arbeitete als Komponist, als Dirigent, als musikalischer Leiter, er schrieb Zirkusmusik, Musik für Kabarettgruppen, für Varietébühnen, für verschiedene Theater, er nahm viele Schallplatten auf und arbeitete für den Rundfunk. Er war ein bekannter Mann.
Und dann gibt es auch noch die Liebesgeschichte. Willy Sommerfeld erzählt diesen Teil jetzt doch besser selbst und er wird dabei ganz wach und vergnügt, die Augen blinzeln und es klingt ja wirklich wie ein Witz, wie das passiert ist damals: Es war 1958, als Willy Sommerfeld in Potsdam auf dem S-Bahnsteig gestanden hat. Plötzlich hat er diese Frau gesehen. Sommerfeld hat eine Bekannte dabeigehabt und ihr gleich gesagt: „Siehst du die Frau dahinten? Sie wird mich heiraten bald!“ Und die Bekannte hat gelacht und nichts geglaubt, und das war es dann fürs Erste.
Aber irgendwann später hat Willy Sommerfeld die Frau vom Potsdamer S-Bahnsteig in der Straßenbahn wieder gesehen. Er ist gleich hingegangen zu ihr und hat gerufen: „Hallo, wir kennen uns!“ Die Frau fand es eine Unverschämtheit: „Plumper geht es nicht!“ Trotzdem waren die beiden fünf Wochen später verheiratet. Und während seine Frau aufsteht und das Hochzeitsfoto holt, sagt Willy Sommerfeld, dass es natürlich auch andere schöne Zeiten gegeben hat, zum Beispiel als sie nach Usbekistan gereist sind. Dann setzt er sich an den Flügel, hustet kurz und spielt ein Kinderlied. Er hat es vor kurzem selbst komponiert. Es heißt: „Ich bin ein großes Krokodil“.
Am 31. Mai ehrt das Kino Arsenal (Potsdamer Str. 2, Tiergarten) Willy Sommerfeld mit einem Überraschungsprogramm. Unter anderem werden Ausschnitte aus dem entstehenden Dokumentarfilm „Willy – der Stummfilmpianist“ von Ilona Ziok gezeigt. Am Klavier: Willy Sommerfeld