: „Du kommst zurück und denkst: Toll, heißes Wasser“
Carolin Emcke, 41, bereist als Kriegsreporterin die Welt. Ihre Erfahrung: Niemand, dem es schlecht geht, möchte, dass jemand ein schlechtes Gewissen hat, dem es gut geht. Ein schlechtes Gewissen ist nur eine Entlastung für Nichtstun
Geboren: 18. August 1967 in Mülheim an der Ruhr. Lebt in Berlin. Beruf: Reporterin. Studium der Philosophie, Politik und Geschichte in London, Frankfurt am Main und Harvard. Promotionsthema: Über den Begriff „kollektiver Identitäten“. 1998 bis 2006 Redakteurin beim Spiegel, unterwegs vor allem im Ausland (Afghanistan, Pakistan, Kosovo, Irak, Kolumbien, Libanon). Blog: www.carolin-emcke.de. Auszeichnungen: Für „Von den Kriegen“ (2005) erhielt sie den Preis für das „Politische Buch“ der Friedrich-Ebert-Stiftung; für ihren Essay – als Buch erschienen beim S. Fischer Verlag – über den Mord der RAF an ihrem Patenonkel Alfred Herrhausen erhielt sie 2008 den Theodor-Wolff-Preis. Beim Kongress zum 30. Geburtstag der taz (17. bis 19. April 2009) wird Emcke eine Lecture halten. Arbeitstitel: Unser Blick auf die Welt oder Das Ende der weißen Deutungsmacht.
Zum taz-Gespräch traf sich Carolin Emcke mit dem taz-Team Gina Bucher und Jan Feddersen in einem Café am Savignyplatz in Berlin.
Interview Jan Feddersen und Gina Bucher
taz: Frau Emcke, Sie sind als Kriegsreporterin viel herumgekommen. Was sollten wir von der Welt außerhalb des reichen Europa wissen?
Carolin Emcke: Ich glaube, wir sollten uns bewusst werden, dass sich das, was Erste, Zweite und Dritte Welt genannt wird, verändert. Was man Entwicklungs- und Schwellenländer nennt, löst sich in seiner Eindeutigkeit gerade auf.
Die Unterschiede verlieren sich?
Nein, das nicht, es gibt weiterhin Ungleichzeitigkeiten, aber wenn uns die aktuelle Finanzkrise eines vorgeführt hat – was uns bereits die Klima- und Umweltfragen und was uns Migrationsfragen auch vorgeführt haben –, dann dass diese globale Welt vor allem eine ist, deren einzelne Teile wechselseitig verwundbar sind.
Ist es dieses Gefühl von Verwundbarkeit, das den Terroranschlag von 9/11 grundiert hat?
Ja, sicherlich. Für die Vereinigten Staaten bedeutete 9/11 gewiss auch eine politisch-psychologische Versehrung: Angegriffen zu werden, passives Opfer eines Angriffs im eigenen Land zu werden, das zitierte Bilder und Assoziationen mit der historischen Erfahrung von Pearl Harbor.
Die darin besteht, dass auch die USA Achillesfersen haben?
Die hatten sie natürlich immer schon, nur ist das kollektive Gedächtnis zu kurz. Der Vietnamkrieg war ja schon einmal eine Erfahrung der Verwundbarkeit. Wobei Vietnam bestimmt nicht nur als militärisches, sondern auch als moralisch-politisches Scheitern empfunden wurde.
Woran machen Sie diese Verunsicherung der Supermacht fest?
Sehen Sie, dieses 9/11 ist von 19 Leuten, ausgestattet mit Teppichmessern, verübt worden. Das ist natürlich auch eine narzisstische Kränkung. An der Überreaktion auf 9/11 erkennt man, wie sehr die amerikanische Regierung darin auch einen Angriff auf ihre Souveränität gesehen haben. Dabei haben sie sich gerade durch diese Reaktion besonders unsouverän gezeigt.
Wie hat sich mit Ihren ersten Reisen in Kriegs- und Elendsgebiete der Welt Ihr Blick verändert?
Dazu muss man zunächst sagen: Ich bin zwar ein Nomade und reise durch die Welt, aber es gibt Regionen, in denen ich mich überhaupt nicht auskenne. Überhaupt nicht in Afrika – von diesem Kontinent habe ich genau so einen fernen, ignoranten Schreibtischeindruck wie andere Zeitungsleser auch. Aber ich kenne Pakistan, Afghanistan, Irak, Kolumbien und die meisten Länder des Nahen Ostens. Was sich verändert, ist dieser herablassende Blick, mit dem wir oftmals durch diese Länder reisen.
Was könnte der herablassende Blick lernen?
Dass er herablassend ist.
Wie merkt man Herablassung?
Aus der Herablassung wird schnell Unsicherheit, es wird schnell offensichtlich, wie viel an Wissen und Erfahrung wir schon verloren haben, die es aber in anderen Ländern noch gibt.
Welches Wissen meinen Sie?
Handwerkliches Wissen, existenzielle Fertigkeiten, die das Überleben garantieren oder den Mangel auszugleichen wissen. Um mal ein kleines, nur scheinbar banales Beispiel zu geben: Wenn ich mit einem west- und einem ostdeutschen Fotografen durch Afghanistan reise, und es gibt nichts zu essen, und es ist kalt und nass, ist der Ossi noch in der Lage, binnen eines Tages alles mögliche zu reparieren und funktionstüchtig zu machen. Der Wessi sagt tendenziell: Hach, meine Hände …
Das könnte ein Klischee sein.
Und eine Übertreibung. Aber ich meine, dass wir durch eine bestimmte Luxuserwartung, eine bestimmte Selbstverständlichkeit des Lebensstandards gewisse Fertigkeiten verloren haben. Auf Reisen erkennst du diese eigenen Schwächen – und das ist der Moment, in dem Herablassung unangebracht ist.
Stimmt es, wie es in Berichten aus Kriegsgebieten oft heißt, dass Frauen immer die ersten Opfer sind?
Das würde ich bestreiten. Aus meiner Erfahrung würde ich sagen, dass Frauen zumindest einen gewissen Vorteil in Kriegszeiten haben, der häufig in der medialen Betrachtung untergeht. Frauen, wenn sie aus ihrem eigenen Zuhause vertrieben werden, wenn sie deportiert werden, können Tätigkeiten, die sie vorher in ihrer Heimat ausgeübt haben, weiter praktizieren.
In Flüchtlingslagern …
… ist das Erste, was einem auffällt, wie aktiv Frauen sind. Die versuchen, Seife zu organisieren, Essen aufzutreiben, den Hausstand zusammenzukriegen, sich um die Kinder zu kümmern. Man erlebt sehr häufig, dass Frauen auch in der Selbstverwaltung von Flüchtlingslagern engagiert sind.
Und die Männer?
Ich habe sie sehr oft apathisch erlebt, verzweifelt. Mit so einer Entwurzelung, die Flucht und Vertreibung ja immer bedeuten, geht bei Männern auch häufig ihre Arbeit verloren, das Feld oder die Werkstatt. Frauen, wenn man so will, tragen in traditionalen Gesellschaften, ihr Arbeitsfeld mit sich. Ich würde eindeutig sagen, dass Männer insofern erst mal versehrter sind als Frauen, weil die sich eine bestimmte Form aktiver, selbstbewusster Identität erhalten können.
Ist es als Kriegsreporterin Vorteil oder Nachteil, eine Frau zu sein?
Tja, da scheiden sich die Geister. Ich vermute, jede Frau würde eine andere Antwort geben.
Und Ihre?
Ich verstehe es als Vorzug, weil ich Zugang zu Frauen habe, zum Beispiel. Männer kommen niemals in die Räume, in denen Frauen leben.
Gerade im Nahen Osten?
Dort merke ich es besonders, aber das gilt für alle Gegenden, in denen es Sensibilitäten für Geschlechterfragen gibt. Es gibt aber kurioserweise noch einen anderen Vorteil, und zwar gerade in Gesellschaften, die Frauen strukturell benachteiligen. Die Männer wollen einem dort besonders demonstrieren, dass sie Frauen nicht so schlecht behandeln, wie sie es faktisch tun. Es ist ein Propagandatrick, der mir dann zugute kommt.
Eine Form der Galanterie?
Genau. Die dort natürlich nur den ausländischen Frauen gegenüber aufgebracht wird. Andersherum passiert es aber auch, dass manche einen als Frau für derart minderbemittelt halten, dass sie glauben, sie müssten mir besonders entgegenkommen.
Freuen Sie diese Privilegien?
Ich würde es Vorteile nennen, und man darf sie annehmen, aber man soll sich um Gottes Willen keine Illusionen machen, dass meine Vorteile auch den einheimischen Frauen im Nahen Osten zuteil werden.
Wo haben Sie dies erlebt?
Ich war neulich im Gazastreifen, um eine Hochzeit zu besuchen. Männer und Frauen feiern getrennt. Ich kann natürlich zu den Frauen gehen und sehen, wie die feiern. Aber die Männer ließen mich auch bei ihnen sitzen und mitfeiern.
Ist eine Reporterin durch Elend erschütterbarer als ein Reporter?
Nein. Das ist keine Frage des Geschlechts. Ich reise ja immer mit dem selben Fotografen, mit Sebastian Bolesch, der ist genauso einfühlsam und erschütterbar wie ich.
Sie bereisen die Welt seit 15 Jahren. Ist Ihrem Eindruck nach die Welt besser oder schlechter geworden?
Das weiß ich nicht richtig. Ich glaube, dass sie sich ihrer Schwächen bewusster geworden ist.
Hat dieses andere Bewusstsein auch mit der Globalisierung zu tun?
Ja, ich denke darüber nach, was Globalisierung eigentlich bedeutet. Ich glaube, dass sie uns eben auch abverlangt, dass wir eine neue moralisch-politische Grammatik des Zusammenleben formulieren.
Geben Sie uns ein Beispiel?
Ich glaube, dass eine Gruppe wie die G 8 jede Existenzberechtigung verloren hat. Ich glaube, es ist nicht mehr zeitgemäß, bei Krisen, bei denen offensichtlich ganze Regionen der Welt miteinander verwoben und voneinander abhängig sind, ein G-8-Treffen einzuberufen.
Neulich gab es ein G-20-Treffen.
Ein Fortschritt, ein Anfang, immerhin.
Ist die Wahl Barack Obamas zum US-Präsidenten ein weiterer Schritt, die Welt besser zu machen?
Seine Wahl hilft sicherlich, die politischen und moralischen Verwerfungen der letzten acht Jahre zu korrigieren. Aber das Wichtigste ist: Die internationale Gemeinschaft muss sich gemeinsam über die normative Ordnung, über die Legitimität von Dissens und Andersartigkeit verständigen. Und darüber, dass eine exklusive Gruppe der G 8 nicht mehr legitime Entscheidungen generieren kann.
Und das Zweite?
Das betrifft mich als Autorin. Wir verstehen globale Gerechtigkeit immer auch in Hinblick auf das, was das für den Kommunikationsaustausch bedeutet. Ich frage mich: Was heißt das eigentlich für den Journalismus?
Was heißt das denn?
Das eine ist: Es gibt das alte Wir nicht mehr. Wir, die wir da schreiben, sind nicht mehr kulturell homogen. Wir können nicht mehr unterstellen, dass die, die wir da Texte produzieren, alle weiß, christlich, männlich, heterosexuell, was auch immer sind. Das Wir, in dem wir uns bewegen, ist schon sehr viel heterogener geworden.
Worin drückt sich das aus?
Die Diskussionen und Verfassungsentscheidungen, die wir gehabt haben über das Aufhängen von Kruzifixen in deutschen Schulen zum Beispiel. Oder die über die Referendarin Fereshda Ludin in Baden-Württemberg – und ob sie kopftuchtragend unterrichten darf. Die damalige Kultusministerin Annette Schavan, die das Urteil anstrengte, war gleichzeitig zweite Vorsitzende des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken. An diesen Fällen merkt man, dass unsere Texte und Berichte nicht mehr einfarbig sein können.
Zumal in Zeiten des Internets, oder?
Ja, für die internationale Perspektive ist das entscheidend. Wir schreiben nicht mehr nur über Leute, die antworten auf einmal auch. Die wehren sich. Wie beim Karikaturenstreit, bei der Papstrede – die Idee einer kleinen, reichen abgeschlossenen Welt ist hinfällig. Menschen aus anderen Ländern, über die einst nur geschrieben wurde, schreiben zurück.
Und sind nicht mehr nur Objekte von Diplomatie.
Exakt. Die Medien sind interaktiv, sie sind zum Dialog gezwungen geworden.
Die Welt als Bekenntnisoberfläche?
Gewiss. Menschen schreiben, was sie schreiben möchten. Und das gefällt mir. Ob uns deren Statements passen oder nicht. Und diese Entwicklung heißt auch, dass wir uns mit ihnen beschäftigen müssen.
Auf welche Weise?
Kulturell sensibel müssen wir sein, sowohl was ikonografische Fragen, also die Bildsprache angeht, als auch Textfragen. Wir müssen nicht jedes Mal, wenn sich jemand beleidigt fühlt, sagen, dass er prinzipiell recht haben muss. Aber wir müssen uns bewusst sein, dass es eine Deutungsvielfalt gibt.
Zum Internet …
Zum Internet haben jetzt generell alle Zugang, und es werden immer mehr Nutzer. Das ist positiv. Und wir werden uns von lieb gewordenen Rollenmustern verabschieden müssen.
Wie meinen Sie das?
Die Bilder, die Spielfilme und Serien vermitteln, die Geschichten, die sie erzählen, wecken nicht nur politisch-soziale Träume von einem besseren Leben, sondern sie beflügeln auch private, individuelle Fantasien. So erkunden Menschen, wie andere Menschen Beziehungen führen.
Lesbische Frauen, die eine normale Beziehung führen.
Auch das. Diese Filme vermitteln ja andere Lebensformen, Frauen, die unverschleiert sind, Männer, die Kinder betreuen. Es wird oft unterschätzt, wie sehr die eigenen Träume und Begehren auch davon abhängen, dass sie als möglich und lebbar vorgeführt werden. Journalismus, Kino und Internet spielen auf dieser Ebene eine existenziell wichtige Rolle. Das Beispiel mit den Lesben ist allerdings ein extremes, weil Homosexualität oftmals besonders tabuisiert ist.
Woher nehmen Sie Ihren Optimismus?
Wir wissen aus der Soziologie, dass Menschen ihre eigenen Wünsche und Begehren nur begreifen können, wenn sie wissen, dass es diese überhaupt gibt. Die Soziologen sprechen von „Scripts“, von Drehbüchern, Rollenmuster, durch die und anhand derer wir uns selbst verstehen lernen. Eine Aufgabe des Journalismus ist es auch, das Moment der Individualisierung und Modernisierung zu unterstützen durch solche Geschichten. Aufklärung verläuft auch darüber, welche Lebensentwürfe und Identitäten dargestellt und ausgebildet werden.
Sie leben in Deutschland. Empfinden Sie Ihr Leben hier als luxuriös?
Das ist ganz unterschiedlich. Es ist nicht so, dass ich auf dem Fußboden schlafe und ein Futon schon als Anzeichen von moralischer Degeneration empfinden würde. Du kommst zurück, und es gibt Situationen, wo du einfach denkst: Toll, heißes Wasser! Man dreht einen Hahn auf, und da kommt was raus. Und es gibt auch Phasen, da braucht man erst mal eine ganze Weile, ehe man wieder im Berliner Alltag zurück ist. Sebastian, der Freund und Fotograf, mit dem ich reise, spricht immer von ein paar Tagen Quarantäne, die er braucht.
Was erleben Sie, zurück in Deutschland, als besonders fremd?
Es gibt Momente, wo mir manches pervers vorkommen. Wenn du das Fernsehen anmachst und Werbung siehst für Rasenmäher oder Ferrero-Rocher.
Sind das nicht genau die Objekte, die die noch im Elend Lebenden ersehnen?
Absolut. Man muss irgendeine Balance finden, um diese Ungleichzeitigkeiten auszuhalten.
Fällt es Ihnen schwer, wieder in der Heimat, etwas Teures zu kaufen?
Überhaupt nicht. Da bin ich genauso irrational wie jeder andere auch. Ich kann mir für wahnsinnig viel Geld Bücher kaufen und ärgere mich, wenn die Milch mir zehn Cent zu teuer ist.
Und in den Krisengebieten, die Sie bereisen?
Habe ich die unglaubliche Großzügigkeit wertschätzen gelernt, die man dort erlebt.
Was schätzen Sie an Deutschland?
Ein ganz persönliches Beispiel – öffentlich-rechtliches Fernsehen und Radio. Was wir den ganzen Tag lang kritisieren. In Wahrheit kann ich das Radio anschalten, und es spielt ein Rundfunk-Sinfonieorchester. Die Idee, so ein Rundfunk-Sinfonieorchester zu haben, ist so ein Geschenk, dass du einfach sagst: Großartig, dass es das gibt.
Nennen Sie uns drei Luxusartikel?
Ein iPod, ein Rundfunk-Sinfonieorchester, eine Heizung. Ich darf nur drei, oder?
Vier gehen auch.
Dann nenne ich noch losen Tee. Das ist ein Luxusartikel, den ich auch richtig schätze. Aber natürlich wäre es wichtiger, so etwas wie die Antibabypille zu nennen.
Sollten wir ein schlechtes Gewissen haben, dass es uns so gut geht?
Nein, auf keinen Fall. Wir sollten ein schlechtes Gewissen haben, wenn wir nicht versuchen, Verteilungsgerechtigkeit zu erreichen. Wir sollten ein schlechtes Gewissen haben, wenn wir keine Empathie mehr haben für diejenigen, die nicht in diesen befriedeten Zuständen leben, und wir sollten ein schlechtes Gewissen haben, wenn wir glauben, dass wir verdient hätten, so zu leben, wie wir leben.
Verzicht könnte nicht hilfreich sein?
Niemand, der in schlechteren Umständen lebt als wir, möchte, dass wir ein schlechtes Gewissen haben. Ein schlechtes Gewissen empfinde ich fast als eine Selbstberuhigung, eine Entlastung fürs Nichtstun, um zu sagen, ich habe wenigstens ein schlechtes Gewissen.