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Archiv-Artikel

„Körper lügen weniger als Worte“

Wie lebe und wie sterbe ich: Darüber redet sich manchmal leichter, wenn man sich in sicherer Distanz glaubt. Über Heimat zu erzählen, scheint zurzeit eine Sache des Ostens Deutschlands. Ein Gespräch mit dem Regisseur Armin Petras, der mit „zeit zu lieben, zeit zu sterben“ zum Theatertreffen kommt

Interview KATRIN BETTINA MÜLLER

taz: Drei Ihrer Inszenierungen der letzten Zeit, „Vineta. Fight City“, „Sterne über Mansfeld“ und „zeit zu lieben. zeit zu sterben“ konzentrieren den Blick auf den Osten Deutschlands und wie in der Gegenwart das Vergangene noch wächst. Man spürt eine große Notwendigkeit, davon zu erzählen. Hatten Sie das Gefühl, dass sich allmählich Blindheit gegenüber dem Osten Deutschlands ausbreitete?

Armin Petras: Ich mache solche Stücke gerne, weil ich das Empfinden habe, dass ein Drittel der deutschen Bevölkerung gar nicht wahrgenommen wird in der deutschen Theaterlandschaft. Da ich nun mal hier aufgewachsen bin und bestimmt die Hälfte meiner Schauspieler aus dem Osten kommt, lag das nahe, damit eine Beschäftigung zu finden. Ich finde es auch nicht ungewöhnlich, wenn man als Nordire nordirische Stoffe macht.

Autor aller drei Stücke war Fritz Kater – das ist das Pseudonym, das Sie als Autor benutzen. Wurde die Einführung von Fritz Kater notwendig, weil Sie diese Stoffe bei keinem anderen Autor finden konnten?

Das finde ich gar nicht falsch. Ich habe früher als Regisseur Stücke von Oliver Bukowski und Heiner Müller inszeniert – da gab es Autoren, die darüber geschrieben haben, und heute gibt es nur noch wenige. Deshalb wurde es wichtig, neue Stoffe zu finden. Aber mich interessiert überhaupt nicht mehr diese Ost-West-Geschichte als biografisches Element. Unsere Gesellschaft besteht zu 99 Prozent aus Migranten, und wenn es die Generation der Väter und Mütter war.

„Fight City“ und „Sterne über Mansfeld“ erzählen viel von den Verlierern der Wende, dem falschen Glanz neuer Versprechungen, den Altlasten. Man erfährt viel vom Scheitern, aber mehr noch von der Langeweile. Ist aber nicht der Lebenshunger, der durch diese Melancholie bricht, das Eindringlichste?

Absolut. Das ist auch das, was mich am meisten interessiert. Die Stücke sind alle relativ kitschig, relativ altmodisch, mit Helden und Contrahelden und Chor. Das ist ja fast der Versuch, Klassik zu schreiben – und ich versuche dann als Regisseur, da reinzuschlagen und etwas anderes rauszuholen.

In „zeit zu lieben, zeit zu sterben“ fallen die unterschiedlichen Textformen sehr auf. Der erste Teil sieht auf dem Papier aus wie ein Textfluss ohne Punkt und Komma, wie ein Treiben von Erinnerung durch verschiedene Köpfe – eine erst mal undramatische Form. Was ist der Reiz, das auf die Bühne zu bringen?

Diese Form ist viel interessanter als die eher klassische Dramaturgie von „Vineta“ oder „Sterne über Mansfeld“, das sind eher Volksstücke. „zeit zu lieben, zeit zu sterben“ besteht aus zwei Prosastücken, am Anfang und am Ende, und in der Mitte ist ein Filmskript. Daraus Theater zu machen fordert als Regisseur.

In allen drei Stücken spielen Liebe und Familie eine große Rolle, der Verlust der Väter, die pubertäre Verliebtheit, der Wunsch nach Kindern. Verglichen mit den meisten Familien auf der Bühne fällt ein großer Unterschied auf: Das ist fast immer die Familie der Tragödie, der Ort des Ursprungs allen Übels, von Macht und Zerstörung. Sehen Sie dagegen die Familie als die letzte Schutzzone des Glücks?

Mir ist das so noch nicht aufgefallen, aber das ist strukturell richtig. Es ist auch ganz logisch, warum es so ist. Alle anderen gesellschaftlichen Strukturen sind für die Leute im Osten zum großen Teil zusammengebrochen, wo sie sich dran festgehalten haben. Es sind so etwas wie Rumpffamilien übrig geblieben, nie komplett. Immer fehlen Leute, sind abhanden gekommen. Vielleicht ist es der Versuch, zu schauen, worüber kann man dann überhaupt noch reden, wenn es keine großen gesellschaftlichen oder politischen Entwürfe mehr gibt.

Auf der Bühne arbeiten Sie viel mit Musik und mit Obst. In „Vineta“ bedecken Äpfel den ganzen Boden, in „Sterne über Mansfeld“ sind es Plastikpflaumen. Das kam mir vor wie ein doppeltes Bild der Verwurzelung: einmal tatsächlich Verwurzelung in der Landschaft, der Kulturgeschichte einer Gegend, die weit zurückreichen kann, und einmal in der Musik, die der Gegenwart angehört.

„Sterne über Mansfeld“ ist so etwas wie der zweite Teil von „Vineta“. In beiden Stücken geht es um Heimat, Landschaft, die über eine Requisite hergestellt wird. Für mich ist Theater eine Mischkunst, und alle Dinge, die ich auf die Bühne bringe, müssen etwas stringent erzählen. Bei mir wird es nie eine Musik geben, die nur ein Gefühl verstärkt, sondern das muss immer eine eigene Qualität haben. Deshalb spreche ich gerne von der Autonomie der Künste. Der Mensch auf der Bühne, die Musik, das Licht, jedes Element kann die Führung übernehmen.

Musik ist natürlich ein zentraler Punkt. Mit dem Sprechen heute ist es nicht mehr so einfach. Der Sprachakt als solcher, der ist so vergiftet und zerstört, so verniedlicht und verkleinert; deshalb muss man immer wieder gucken, wo kann die Sprache Kraft herbekommen. Musik ist da ganz stark. Wenn Johnny Cash singt „Would you lay with me in a field of stone“ und das Ganze auf einer Abraumhalde spielt, dann hat das einen ganz großen emotionalen Wert. Da beschreibt die Musik eine Sehnsucht, die das ganze Stück beschreiben will. An Punkten, wo ich mit dem Text nicht mehr weiterkomme, egal ob der Autor Friedrich Hebbel oder Fritz Kater heißt, muss von einer anderen Ebene etwas kommen.

Sie haben einmal den „Kontext des Körpers“ als einen wichtigen Faktor des Verstehens benannt. Ist der Körper dem Wortverständnis voraus?

Ja, vor der Musik, vor dem Text kommt der Körper. Meine Freundin ist Choreografin und Tänzerin; wenn ich fünfzehn Jahre jünger wäre, würde ich gar nicht Theater machen, sondern gleich versuchen, Tanz zu studieren. Körper lügen weniger als Worte. Ich versuche das immer mit dem wenigen, was ich von Körpern verstehe, in die Inszenierungen mit reinzunehmen. Die Probenarbeit ist wichtig; Schauspieler werden erst dann entlassen, wenn ich den Körpern glaube – das ist für die auch oft schwer.

Erzählen Sie deshalb in „Vineta. Fight City“ von zwei Boxern und einer ehemaligen Gymnastikerin, die sehr unter ihren Körpern leiden?

Die leiden nicht nur, sie haben darin auch eine Heimat gefunden. Wenn Steve in seine Heimatstadt Frankfurt/Oder zurückkommt, will er einen Kampf haben: Das sucht er, das hat er verloren. Das habe ich in keiner Kritik erwähnt gefunden. Da steht immer nur was über Arbeitslose, traurig, traurig; aber es fehlt, dass es ein Stück ist über einen Mann, der sich selber sucht, einen Punkt, wo er anfangen kann, neu zu leben. Das ist für ihn das Boxen. Da können wir als Intellektuelle, die wir ja nun mal leider sind, sagen, das finden wir blöd. Aber es geht mir nicht um Ideologien, sondern um Strukturen. Und wenn ein Boxer nach Hause kommt, will er boxen – ein Körpergefühl wiederbekommen. Deswegen bin ich gerne am Theater. Weil man sich da hinfallen lassen kann oder rumrennen oder rumschreien, das würde ja als Angestellter in einer Bank nie funktionieren. Da hat man viele Zwänge. Ich habe auch viele Zwänge. Abonnenten, die rausgehen. Aber es ist doch besser.

„zeit zu lieben, zeit zu sterben“ ist auch eine ausführliche Pubertätsgeschichte. Wie wichtig ist Ihnen ein junges Publikum?

An vielen Theatern, an denen ich gearbeitet habe, in Frankfurt/Oder oder Nordhausen, gab es überhaupt nur junges Publikum. Dort habe ich viele Jugendstücke gemacht, das war gar keine Frage. Aber das ist nicht der Punkt. Inzwischen habe ich auch viele 70-jährige Frauen kennen gelernt, die offener sind als viele 30-Jährige. Da hat sich etwas verdreht. Es gibt extrem konservative Jugendliche, die alte Stücke nur in alten Kostümen sehen wollen.

Diesmal lief das Jugendtheatertreffen parallel zu dem Theatertreffen. Iris Laufenberg, die Leiterin des Theatertreffens, hat betont, wie viele der Impulse für das Theater heute von dort kommen. Auf der anderen Seite gibt es die Krise der Stadttheater, denen ein nachwachsendes Publikum fehlt. Ließe sich das nicht ändern?

Mir geht es definitiv darum, andere Schichten sowohl in das Theater als auch auf die Bühne zu holen als die Abonnenten. Fast in jedem Stück gibt es Leute, die man nicht a priori im Theater vermutet. Wenn in „Sterne über Mansfeld“ elf ältere Damen einen Chor spielen, hat das einen Sinn. Ich will solche Leute ins Theater holen, die bringen ihre Freunde mit. Fast immer gibt es Laien in den Inszenierungen, ganz abgesehen von den Hospitantenscharen, die immer mehr werden. Da ist das flämische Theater von Alain Platel ein Vorbild für mich, in der Hinsicht der sozialen Verankerung. Wenn ich nach Gent, Brüssel oder Antwerpen fahre, sehe ich, dass das Theater auch für die Region gemacht wird. Genau diese Verankerung, die Reflexion der wirklichen Probleme der Leute, die da leben, schafft ein ganz anderes Bewusstsein für das Theater dort.

In Deutschland kann man ja zwar von einer „einzigartigen Theaterlandschaft“ reden, weil viele Städte noch ein Stadttheater haben, fast das letzte Erbe der Kleinstaaterei. Warum aber zeigen sich so wenig Ansätze, Theater aus einer Region entstehen zu lassen?

Das liegt wohl an dem komischen Drang nach Berlin, Wien oder Hamburg. Das fehlende Selbstbewusstsein in den kleinen Städten ist schlimm. Das ist schade, denn das wäre ein Pfund, mit dem man ganz anders umgehen kann.

Zwei der Stücke über den Osten kamen in Hamburg heraus. Vielleicht ist es auch für ein westdeutsches Publikum leichter, bestimmte Geschichte anzunehmen, wenn sie über den Osten erzählt werden, obwohl oder gerade weil sie einen doch auch betreffen.

Das ist eine gute Frage. Ich habe bei beiden Kater-Stücken zuerst gedacht, das will hier keiner sehen. Die Schauspieler haben das dann hinter meinem Rücken an den Intendanten des Thalia Theaters, Ulrich Khuon, weitergeleitet. Angesichts des Erfolges war das wohl richtig. Ich habe da noch nicht drüber nachgedacht; für viele Hamburger ist Frankfurt/Oder weiter weg als Afrika. Trotzdem beschreibt das Stück Sehnsüchte, die wir auch haben. Es geht gar nicht um die Nähe des Alltags, es geht darum, Seinsprobleme auseinander zu nehmen, so kitschig und moralisch sich das anhört. Wie lebe ich und wie sterbe ich, das sind die entscheidenden Fragen.