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Archiv-Artikel

Dem Schicksal keine Stimme

Wie eine sorgsame literarische Dokumentation über den Anschlag der Aum-Sekte auf die Tokioter U-Bahn ohne größere Notwendigkeit in eine Trash-Theaterwelt überführt wird: Haruki Murakamis „Undergrundkrieg“ unter der Regie von Regina Wenig im Dresdener Theater in der Fabrik

Der Giftgasanschlag stellt sich zuweilen als zu belächelndes Missverständnis dar

Die innere Stimme, die nach den Ursachen einer Katastrophe fragt, ist eine der beharrlichsten überhaupt, vor allem, wenn nicht die Natur zum Ausbruch kam, sondern etwas aus der Tiefe der Gesellschaft die Oberfläche durchbrochen hat. Die Frage nach dem Warum stellte sich für den japanischen Schriftsteller Haruki Murakami immer wieder, nachdem am 20. März 1995 in Tokio mitten im morgendlichen Berufsverkehr das Unfassbare geschah: In fünf U-Bahn-Zügen zerstachen Anhänger der Aum-Sekte mittels einer angeschliffenen Regenschirmspitze mit Sarin gefüllte Plastikbeutel, aus denen langsam das tödliche Giftgas entwich. Zwölf Menschen starben, mehr als 5.000 wurden verletzt.

Als Murakami ein Jahr später Interviews mit Betroffenen führen will, stößt er auf kollektiven Wille zur Verdrängung. Nur sechzig Menschen sind bereit, mit ihm zu reden. Er hält alles fest: die Schilderung der albtraumhaften Stunden, das Chaos unter den Rettungskräften, das veränderte Leben. So unkommentiert wie Murakami die Protokolle, inklusive seiner später geführten Interviews mit Aum-Mitgliedern, in dem Buch „Untergrundkrieg“ zusammengefasst hat, offenbart sich sein Vertrauen auf eine ursprüngliche Wahrheit in den Berichten der Betroffenen.

Das Warum ist der jungen Regisseurin Regina Wenig in ihrer Uraufführung der Dresdener Fassung am Theater in der Fabrik gründlich abhanden gekommen. Zusammen mit der Dramaturgin Christine Richter-Nilsson hat sie viele Fragmente aus der Textgrundlage herausgebrochen und um Opferstimmen und Zitate aus Medienberichten vom 11. September oder der Geiselnahme im Moskauer Theater ergänzt. Weder nützt dies der Inszenierung noch schadet es ihr. Die Eindringlichkeit geht verloren, weil die von Murakami diagnostizierte Verunsicherung der japanischen Gesellschaft in viel zu unscharfe Bilder gefasst wird. Was entsteht, ist eine Trash-Theaterwelt, in der alle ständig aus ihren Rollen fallen, in der die Schauspieler als freundlich-harmlose Sprechautomaten entindividualisert sind und Popsongs als Pausenfüller dienen – Mittel, die mehr Inhalt als Rahmen sind und sich gegen die monologische Struktur des Textes stark machen, statt ihr einen Rhythmus zu geben.

Der Schauplatz erinnert an eine graue U-Bahn-Station. Links ist ein Bahnsteig nachgebaut, dessen Kante einen halben Meter über die Bühnenmitte ragt. Man glaubt anfangs, dass die Figuren mit einem Sprung herunter symbolisch unter die Gleise geraten, aber im Laufe des Abends löst sich das Profil der Bühne auf, so wie auch die Figuren mal die Japaner, dann kapitulierende Terroristen oder gewaltbereite Amerikaner als Identität anzudeuten haben. Vorne verwandelt sich die Bühne zu einer Karaokebar, wo sinnhubernde deutsche Lieder wie Nenas „Woher kommt deine Angst“ gesungen werden.

Währenddessen spielen die restlichen vier die Reise nach Jerusalem. Der Verlierer, der keinen Stuhl mehr erwischt, der in der Leistungsgesellschaft also schwächer als die anderen war, der muss wie ein gehänselter Erstklässler nach vorne treten und Passagen aus jenen Interviews zitieren, die Murakami mit Anhängern der Aum-Sekte geführt hat. Wenn sich die Schauspieler dabei an eine improvisiert-widerwilligen Ton klammern, sind die Sympathien und Rollen schnell verteilt.

Mit so viel naiv ausgespielter Assoziationslust stellt sich der Giftgasanschlag zwischendurch als zu belächelndes Missverständnis da. Denn eigentlich haben sich alle lieb. Beim Teetrinken werden Streicheleinheiten verteilt, und wenn man sich doch mal in die Rippen tritt, wird ein entschuldigendes Knurren hinterhergeschickt – über ein diffuses Andeuten der Abgründe im japanischen Alltagsleben reicht das nicht hinaus.

Schuld ist auch der harmlose Ton, dass die Inszenierung zu einer furchtbar zähen Angelegenheit wird. Aus der Ratlosigkeit heraus will der Abend am Ende herausfinden, was er konsequent vermeidet: dem Schicksal eine Stimme zu geben. Die Stimme der jungen Frau, die hochschwanger ihren Mann verlor, deren Erzählung die fünf Schauspieler sehr ruhig und klar erklingen lassen. Aber da denkt man schon längst wieder an das Buch, das ohne Pathos und falsche Komplizenschaft erzählt, wie das Chaos in das disziplinierte Leben einbricht.

SIMONE KAEMPF