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Archiv-Artikel

„Mein Auto hieß Aida Lohengrin“

Michael Cramer

„Betrunken Fahrrad fahren? Ich habe kein Messgerät dabei. Aber ich möchte nicht als Trunkenbold auf zwei Rädern auf der Titelseite der ,B.Z.‘ landen“„Impotent durchs Radfahren? Quatsch. Davon habe ich bisher nichts gemerkt. Da kenne ich ganz andere, die nicht Fahrrad fahren“

Er ist der Radfahrer unter den Berliner Abgeordneten. Nicht nur, wenn es wärmer wird wie jetzt, nein, jeden Tag radelt er von Halensee ins Abgeordnetenhaus, duscht und setzt sich an den Schreibtisch. Doch auch Michael Cramer hat eine Auto-Vergangenheit. Winter für Winter setzte er sich ans Steuer seines Peugeots, warf in Dreilinden Theodorakis in den Rekorder und fuhr nach Kreta. Doch das war einmal. Heute zieht es den 55-jährigen Exlehrer nach Brüssel. Als grüner Europaabgeordneter will er auch europaweit für eine fahrradfreundlichere Politik und sanften Tourismus kämpfen. Ein Auto hat er lange nicht mehr. Aber auch keinen Kosenamen für sein Fahrrad.

Interview PLUTONIA PLARRE und UWE RADA

taz: Herr Cramer, kann es sein, dass Sie etwas Speck angesetzt haben?

Michael Cramer: Die Frage hat mir noch nie jemand gestellt. Ich tue jeden Tag was für meine Gesundheit.

Was und wann?

Heute morgen zum Beispiel. Ich wohne in Halensee und fahre jeden Tag mit dem Fahrrad zum Abgeordnetenhaus. Full speed. In einer knappen halben Stunde bin ich da. Auch im Winter. Es sei denn, es ist eisig oder gießt in Strömen.

Dann ist das Muskelfleisch, was sich unter Ihrem T-Shirt abzeichnet?

Natürlich. Wer Rad fährt, tut etwas gegen den Speck und verhält sich obendrein unweltfreundlich.

Wie muss man sich das praktisch vorstellen? Sie radeln ins Büro, setzen sich schweißnass an den Schreibtisch und lassen die Klamotten am Körper trocknen?

Bevor ich mein Tagewerk beginne, dusche ich natürlich und ziehe mich um. Nicht nur die CDU-Fraktion im Abgeordnetenhaus hat eine Dusche, auch die Grünen.

Fahren Sie eigentlich immer noch mit dem alten Hollandrad?

Sie laufen ja auch nicht mehr in lila Latzhosen rum. Nein. Ich habe ein sehr gutes Fahrrad.

Wie viel hat es gekostet?

Es hat einen Wert von 3.000 Mark. Es ist drei Jahre alt und verfügt über einen Stoßdämpfer an der vorderen Gabel und unter dem Sattel.

Mittlerweile werden in Berlin 10 Prozent aller Wege mit dem Rad zurückgelegt. Doppelt so viel wie vor zehn Jahren. Sie sind schon vor 25 Jahren vom Auto aufs Rad umgestiegen. Der Pionier auf zwei Rädern – sind Sie darauf stolz?

Das war schon damals exotisch. Ein gut verdienender Lehrer, wie ich es war, schafft sein Auto ab. Wenn ich im Parlament das hohe Lied auf den öffentlichen Nahverkehr gesungen habe, wurde sofort behauptet: Sie fahren doch selber Auto. Ich konnte antworten: Nein, tut mir Leid, ich bin auch ohne Auto mobil und keineswegs dogmatisch. Wenn ich nicht Rad fahre, benutze ich Bus und Bahn. In der U-, S- und Straßenbahn ist die Fahrradmitnahme seit einem Jahr ohne Sperrzeiten möglich, und manchmal leiste ich mir auch den Luxus eines Taxis. Meine Fahrer sind übrigens immer nüchtern.

Wir notieren: Michael Cramer fährt nicht Fahrrad, wenn er drei Bier intus hat?

Ich habe kein Messgerät dabei. Aber ich möchte nicht als Trunkenbold auf zwei Rädern auf der Titelseite der B.Z. landen.

So wie der frühere Bausenator Jürgen Kleemann, der auf der Avus alkoholisiert zu schnell gefahren sein soll und die Polizei abhängen wollte.

Oder wie Heinrich Lummer. Deshalb setze ich mich ja dafür ein, dass S- und U-Bahn so wie in New York die ganze Nacht durch fahren. Wir wollen ja eine Metropole sein.

A propos Metropole. Sie sind in Gevelsberg in Westfalen geboren. Hat Sie Ihre Mutter auf dem Fahrrad im Galopp verloren?

Soweit ich weiß, nein. Aber ich konnte schon Fahrrad fahren, bevor ich in die Schule kam. Mein Opa hat es mir beigebracht. Er musste hinter mir herlaufen, um mich in den Kurven festzuhalten. Da muss ich vier oder fünf gewesen sein.

Die Stützradphase haben Sie übersprungen?

So was war in der Nachkriegszeit Luxus. Damals wurden die Räder vererbt. Ich habe zwei Geschwister. Wir sind alle zwei Jahre auseinander, ich bin der Jüngste. Wir bekamen die abgelegten Räder aus der Verwandtschaft. Mein Vater, der im Übrigen auch Lehrer war, hatte sieben Geschwister, meine Mutter fünf. Mein erstes Rad war ein 28er Herrenrad. Ich bin erst spät gewachsen und war in der Grundschule immer der Kleinste. Das Rad war viel zu groß für mich. Ich bin damit immer seitwärts durch die Stange tretend gefahren.

Sie waren in Ihrer Jugend nie stolzer Besitzer eines neuen Rades?

Doch, aber da war ich schon fünfzehn. Ich hatte damals in einer Autozubehörfabrik, auf dem Bau und in einer Gärtnerei gejobbt. Als ich genügend Geld zusammen hatte, bin ich ins Sauerland gefahren und habe mir in der Firma „Vaterland“ mein erstes Rad mit fünf Gängen gekauft. Ein ganz tolles Gefährt. Ich habe es direkt in der Fabrik abgeholt und bin die 70 Kilometer nach Hause gefahren.

Sam Hawkens hat seine Flinte Liddy und sein Pferd Marie genannt. Hatte Ihr Stahlross auch einen Namen?

Meine Fahrräder hatten nie einen Namen. Aber ich muss gestehen, mein erstes Auto hieß Aida Lohengrin.

Sie hatten nicht nur ein Auto! Es war sogar eine Liebesbeziehung!

Das war ein Fiat 770, den ich für 800 Mark von einem Freund aus dem Turnverein gekauft habe, der die alten Autos aufgepeppt hat. Das war 1967, kurz vor dem Abitur. Damals hatte ich in der Wuppertaler Oper als Bühnenmusiker gejobbt. Ich habe Trompete gespielt. Für den Auftritt bei „Aida“ habe ich 55 Mark pro Abend bekommen, bei „Lohengrin“ 95 Mark. Von dem Geld habe ich mir mein erstes Auto gekauft. Danach war Rad fahren erst mal abgemeldet.

Sie haben das Feeling von Freiheit und Abenteuer hinter dem Steuer ausgekostet.

Es war schon eine tolle Zeit. Der Fiat hatte einen Liegesitz …

Aha!

Das sparte Hotelkosten. Ich habe mit dem Auto viel unternommen. Später, als ich in Berlin Lehrer war, bin ich mit einem Diesel Peugeot 404 Kombi, der eine riesige Liegefläche hatte, in den Weihnachtsferien nach Kreta gefahren. 3.000 Kilometer, davon 1.200 auf dem Autoput durch Jugoslawien. Das habe ich mindestens zehnmal gemacht. Bei 16 Tagen Ferien blieb da vor Ort nicht viel Zeit. Aber sobald wir in Dreilinden waren, mit Theodorakis im Ohr, draußen rieselte leise der Schnee, begann für mich der Urlaub. Es war das absolute Gefühl von Freiheit, aber heute würde es nie wieder tun.

Ginge auch gar nicht, Sie haben 1979 Ihr Auto ja abgeschafft. Was war der Auslöser?

Ich wohnte damals in der Würzburger Straße, direkt hinter dem KaDeWe. Wenn ich vor dem Haus einen Parkplatz hatte, war ich so glücklich, dass ich mein Auto manchmal wochenlang nicht bewegt habe. Mit der U-Bahn war ich sowieso viel schneller in meiner Schule in Neukölln.

Seither machen Sie ohne Auto Urlaub. Traurig, oder?

Von wegen. Ich bin die Donau entlang gepaddelt, von Ingolstadt zum Schwarzen Meer. Ich habe die Pyrenäen von West nach Ost durchwandert und von Nord nach Süd die Alpen. Ich habe riesige Fahrradtouren gemacht.

Herr Cramer, Sie sind nun schon 15 Jahre lang der verkehrspolitische Sprecher der Grünen. Was war in dieser Zeit in puncto Fahrradpolitik die schlimmste Entscheidung für die Stadt?

Die größte Katastrophe war, als SPD und CDU 1991 im Haushalt alles, was mit Fahrradförderung zu tun hatte, gestrichen hatten.

Was war besonders positiv?

Dass es den Grünen 1999 nach langen Anläufen gelungen ist, im Haushalt einen eigenen Fahrradtitel einzuführen. Inzwischen ist er auf 5 Millionen Euro angewachsen. Und nicht zu vergessen: der Berliner Mauer-Radweg.

Ihr ganz persönlicher Erfolg. Das war ja Ihr Kind.

Da steckt viel Leidenschaft drin. Für den Erhalt der 160 Kilometer langen Strecke rund um Westberlin und die Unterquerung der Bahntrasse in Lichterfelde-Süd habe ich zehn Jahre erfolgreich gekämpft. Übrigens: Warum fällt es dem Senat nicht ein, die Fahrradsternfahrt, an der über 100.000 Menschen teilnehmen, ähnlich zu vermarkten wie die Love Parade? Das ist ein Event, das Berlin in ganz Europa bekannt machen würde.

Vielleicht, weil man mit Berlin als Fahrradstadt nicht unbedingt werben kann. Die Zahl der Radler, die im Verkehr sterben, ist gestiegen. Was die Fahrradfreundlichkeit angeht, rangiert die Hauptstadt in einer Untersuchung von 35 deutschen Großstädten auf Platz 20.

Ja, die Unfallzahlen und auch die Unfallursachen sind Besorgnis erregend. Obwohl in 70 Prozent der Stadtstraßen Tempo 30 gilt und die Gehweg-Radwege nicht mehr gebaut werden. Der holländische Lkw-Spiegel fehlt bei den BVG-Bussen und auch bei den Lkws der BSR. Im Vergleich zu fahrradfreundlichen Städten gibt es noch viel zu tun.

Wie können Sie sich da im Sommer ruhigen Gewissens ins Europaparlament verabschieden?

Das werde ich ständig gefragt: Wie kannst du nur? Du bist hier unabkömmlich. Ich kann nur sagen: In Brüssel kann ich eine Menge tun, auch für Berlin.

Erzählen Sie es uns.

Nach dem Vorbild des Berliner Mauer-Radwegs wollen wir den Iron Curtain Trail, die Grenzstrecke entlang des ehemaligen Eisernen Vorhangs, von der Ostsee bis an die Adria, als grünes Band und Fahrradweg erhalten. Außerdem: Gesicherte Fahrradmitnahme in allen Zügen innerhalb der EU und auch grenzübergreifend sowie Förderung von Fahrradrouten auch aus dem EU-Strukturmittelfonds.

Hätten Sie vor 15 Jahren geglaubt, dass der Radtourismus so einen Boom erfahren würde?

Ich habe mit einer deutlichen Zunahme gerechnet, aber dass es diese Dimension annehmen würde, überrascht mich doch. Der Esterbauer-Verlag, der die blauen Radtourenbücher herausgibt, kommt mit dem Drucken gar nicht hinterher, so schnell sind die Hefte vergriffen. Und das, obwohl die warmen Monate noch gar nicht begonnen haben.

Das ist ein riesiger Wirtschaftszweig. Wie lange wächst der noch?

Noch eine ganze Weile. Das Weitreisen wird immer teurer. Die Nähe wird wiederentdeckt. Was Politik und Wirtschaft überhaupt noch nicht erkannt haben: Berlin ist weltweit eine der ganz wenigen Metropolen, die für sanften Tourismus etwas anbieten können. Tagsüber kann man im Grünen herumfahren, abends geht man ins Theater oder in die Oper. Das gibt es nur noch in Kalifornien mit dem San Francisco Bay Trail. Dazu kommt, dass der ökonomische Gewinn des Radtourismus zu wenig beachtet wird. Dabei belegen alle Untersuchungen, dass der Radtourist pro Tag mehr Geld ausgibt als der Autotourist.

Ist Ihnen eigentlich bekannt, dass Männer, die viel und lang auf dem Sattel sitzen, impotent werden können?

Hab ich auch gelesen.

Ist das der Grund, warum Sie nur ein Kind haben?

Quatsch. Von Impotenz habe ich bisher nichts gemerkt. Da kenne ich ganz andere, die nicht Fahrrad fahren.

Wie ist es mit der Omnipotenz, sprich rüpelhaftem Verkehrsverhalten wie über rote Ampeln fahren?

Kann ich mir als Volksvertreter nicht leisten. Aber ich sag nur eines: Rüpel gibt’s überall. Nur dass die mit 80 oder 90 PS unterm Hintern allemal gefährlicher sind, als die, die es mit eigenem Antrieb machen.