ausgehen und rumstehen : Durch den Wandschrank hinunter zum Brasilianer
Wenn man die Novemberdepression mit in den Dezember genommen hat, dann ist das Ausgehen kein Vergnügen mehr, es wird zur Therapie.
Draußen herrschen Dunkelheit und feuchte Nässe vor, man will noch nicht mal vom Fenster aus auf die Straße schauen, so ungemütlich ist es. Und doch ist das Rausgehen, das Draußen-enger-Zusammenrücken die einzige Lösung für solche Tage, muss doch das fehlende Sonnenlicht durch die aufmunternde Wirkung von Alkohol und Geselligkeit ersetzt werden. Und wenn einem auch nicht danach ist: Man muss sich zwingen.
Unwirklich sind die Berliner Straßen in diesen Tagen. Die Weihnachtsmärkte haben überhandgenommen. Neun Weihnachtsmärkte zählt man allein im Bezirk Mitte, mehrere Winterwelten und Schlittschuhbahnen kommen dazu. Was gibt es Melancholischeres, als wenn vier Riesenräder auf engsten Stadtraum sinnlose Runden mit ihren leeren Gondeln im Nieselregen drehen? „Es gibt wieder eine Montagsbar“! , hatte K. verkündet „in Mitte, auf dem Schlossplatz in der temporären Kunsthalle“.
Ein Ort, der zur Skepsis anregt, aber die Aussicht einen verregneten Abend auf unwirklichem Areal und historischem Ort, neben dem frisch abgerissenen Palast der Republik und seinen Nebenbrachen zu verbringen, war doch zu verführerisch.
In der „Montagsbar“ selbst war es allerdings unspektakulär bis zur Langeweile. In einem recht hohen Bahnhofssaal saßen kunstaffine Menschen recht statisch an Tischen beisammen, trotzdem wurde jede Bewegung im Raum filmisch mit hochpreisigem Equipment dokumentiert. Das Trinken ging schnell ins Geld und trotz anregender Gesprächen und ansprechenden DJ-tums kam kein richtig gutes Ausgehgefühl auf. „Nee“, dachte man da, „wenn Kunst und Mode die popkulturellen Funktionen der Musik übernehmen, wie das Feuilleton ja ständig unkt, dann muss sich aber in punkto Lebensfreude und Rauschhaftigkeit bei der Kunst noch einiges tun.“ Zumal auf der Webseite der „Montagsbar“ versprochen wurde, dass DJs für einen Abend einen Hauch von ekstatischer Gegenwärtigkeit ins Kontemplative einer Kunsthalle bringen. Wir gingen dann auch bald und diskutierten noch eine Weile ob „Montagsbar“ als Name eine reine Anmaßung ist oder ein bewusstes Spiel mit der ungut veränderten Ausgehsituation in Mitte sein soll? Montagsbar war ja schließlich in den Neunzigern der Ideenshop in der Torstraße, eine improvisierte Bar, bröckeliges Interieur, der Schmelz von Mitte …
Den frühen Schmelz von Mitte sollte man dann aber einige Tage ausgerechnet in Neukölln wiederentdecken. Oder „Kreuzkölln“, wie es ja überall so blöd heißt, eine trostlose Gegend, die man in Westberlin schon ignoriert hatte. Aber, von frisch Zugezogenen mitgenommen, kam in der hinteren Weichselstraße plötzlich nach etwa zwölf Jahren wieder der Schmelz von Mitte auf. Das nicht – stylish Abgeblätterte, die herzlich – unprofessionellen, nicht nur auf Gewinnmaximierung durch Alkoholverkauf konzentrierten Tresenkräfte – ein Déjà-vu.
Die Krönung der Erkenntnis, dass Altbewährtes schlagartig neu und aufregend sein kann, kam am Samstag. Schon ganz der Depression hingegeben, lagert man auf dem Kreuzberger Diwan, als J. meint, eine Freundin lege in einem nahen Café auf. Eine Wegstrecke von drei Minuten ist keine echte Entschuldigung, also musste man sich aufraffen. In dem recht unspektakulären Sofa-Café konnte man durch einen Wandschrank in eine Kellerbar hinuntersteigen. Und dort war es – ich schwöre! – fast genauso wie beim legendären „Brasilianer“ neben dem allerersten WMF.CHRISTIANE RÖSINGER