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Archiv-Artikel

Durch eine umbenannte Stadt

Am 16. Mai 1703 hatte Peter der Große begonnen, die neue Hauptstadt des Reiches den Sümpfen abzutrotzen, um an der Newamündung ein Fenster nach Europa aufzustoßen und sein Land der Moderne zu öffnen. Zwei Bücher über Petersburg

Auf der Suchenach der mystischen Seele der Stadtder weißen Nächte

von SABINE BERKING

In dieser Stadt sei es einfacher, die Einsamkeit zu ertragen als andernorts, weil die Stadt selbst einsam sei, schrieb der Literaturnobelpreisträger Joseph Brodsky 1986 über seine Heimatstadt Leningrad/Petersburg, die vom russischen Kernland verschmähte einstige Hauptstadt. Gleich einem Romanhelden Dostojewskis, so Brodsky, beziehe die Stadt ihren Stolz und ein geradezu sinnliches Vergnügen aus der Tatsache „unerkannt“, ja abgewiesen zu sein.

Wie keine andere europäische Metropole des 18. und 19. Jahrhunderts ist Petersburg mit seinen heute 5 Millionen Einwohnern aus unserem Metropolenbewusstsein getilgt – geblieben ist ein Freilichtmuseum mit Palästen und Kathedralen. Wenn Lenin, so schreibt Brodsky, für irgendetwas ein Denkmal gebühre, dann dafür, dass er der Stadt erspart habe, im Klub der globalen Dörfer mitspielen zu müssen. Denn kurz nach dem Sturm auf das Winterpalais wurde die Hauptstadt von den Bolschewiki wieder nach Moskau verlegt. Wer wollte schon aus den Palästen des ermordeten Zaren heraus regieren? Das metropolitane Petersburg mutierte zur Erinnerung, vor allem einer literarischen. Die Poeme Puschkins, die Erzählungen Gogols, die Romane Dostojewskis – was wären sie ohne die Stadt?

Am 16. Mai 1703 hatte Peter der Große begonnen, die neue Hauptstadt des Reiches den finnischen Sümpfen fern des Mutterlands abzutrotzen, um an der Newamündung ein Fenster nach Europa aufzustoßen, einen Zugang zum Meer zu erhalten und sein Land der Moderne zu öffnen. Es war ein Kampf der Kultur gegen Naturgewalten und Traditionen, der Abertausenden das Leben kostete. Erbaut als nördliches Rom nach Plänen italienischer Baumeister wurde die Stadt zum Ausdruck einer imperialen Idee.

Der Slawist und Historiker Karl Schlögel hat nun ein Buch für die deutschen Leser wiederentdeckt, das, bereits 1922 – in dem Jahr, in dem aus Petersburg Leningrad wurde – geschrieben, den Aufstieg und Niedergang der nördlichen Lagunenstadt in fulminanter Weise beschreibt. Nikolai Anziferow, Landeskundler und Vorfahre der moderner Stadtsoziologen, begibt sich als literarischer Flaneur auf die Suche nach der mystischen Seele der Stadt der weißen Nächte. Hymnisch wurde Petersburg im 18. Jahrhunderts beschrieben, bis der Dichter Alexander Puschkin Anfang des 19. Jahrhunderts mit seinem „Ehernen Reiter“ das doppeltes Antlitz der Stadt erkennt – den Geist diktatorischer Macht und Finsternis neben dem der Schönheit – Paläste und Straßen im transparenten nördlichen Licht. Nikolai Gogol macht wenige Jahre nach Puschkin in den nächtlichen Gestalten der kleinen Beamten die surreale Trostlosigkeit einer kalten Bürokraten- und Kasernenstadt aus, die erst in der Nacht ihren sonderbaren Reiz entfaltete. Für den Autor „Der toten Seelen“ stand fest: „Russland braucht Moskau, doch Petersburg braucht Russland“ – ohne das Hinterland ist die Stadt ein Nichts. Dostojewski verachtete die sich mehr und mehr in einen kapitalistischen Moloch verwandelnde urbane Enklave mit ihrem abstoßenden „Amerikanismus“, den geraden Straßen und glitzernden Konsumpalästen, ungeachtet der Tatsache, dass gerade diese Stadt ihm die kriminalistischen und fantastischen Sujets für seine Romane lieferte.

Als wolle sich die Metropole um die Jahrhundertwende gegen ihr Los aufbäumen, wird Petersburg noch einmal zum pulsierenden Zentrum des russischen Geisteslebens – bis es nach der Revolution 1918 den Status der Hauptstadt verliert und mit dem Verlust des Namens 1922 auf Jahrzehnte in den Annalen der Geschichte verschwindet. Die Paläste leer, die Menschen geflohen. Nie, so Anziferow, war die Stadt schöner als in diesen Jahren. Es folgen Hunger, Gewalt und eine 900 Tage währende Blockade im Zweiten Weltkrieg. Aus Petropolis war Nekropolis geworden.

1930 hatte Ossip Mandelstam geschrieben: „Petersburg, noch will ich nicht sterben, ich habe deiner Telefone Nummern, noch habe ich Adressen, an denen ich die Stimmen der Toten finden kann.“ Anziferows Schicksal gleicht dem hunderttausender Vertretern der alten russischen Intelligenzija – er verbringt Jahre im Lager, während der Leningrader Blockade verliert er seinen Sohn, eine Tochter wird während des Krieges zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt. Er selbst stirbt 1958 in Moskau. „Die Seele von Petersburg“ – in der deutschen Ausgabe mit einem klugen Nachwort von Karl Schlögel versehen – ist sein Vermächtnis.

Auch Brodsky wird über seinen Tod 1993 hinaus vom Schicksal Petersburgs verfolgt. Seine Erinnerungen an die Heimatstadt – zwei Essays aus den Jahren 1976 und 1985 – waren bereits 1986, ein Jahr bevor er den Literaturnobelpreis erhielt, zum ersten Mal auf Deutsch bei Hanser unter dem Titel „Erinnerungen an Leningrad“ erschienen. Die Rückbenennung der Stadt war für den Verlag wohl auch der Anlass zu einer Umbenennung des Buches in „Erinnerungen an Petersburg“. Doch Brodsky hat nie in einer Stadt namens Petersburg gelebt, keines seiner Essays trägt einen solchen Titel. Und in der umbenannten Neuauflage von 2003 mit schwermütig-schönen Fotos von Barbara Klemm fehlt leider immer noch ein wichtiger Aufsatz Brodskys: Der heißt im englischen Original in Retrospektive und weiser Voraussicht der Geschichte „Guide to a renamed city“.

Nikolai Anziferow: „Die Seele Petersburgs“. Aus dem Russischen von Renata von Maydell. Mit einem Vorwort von Karl Schlögel. Carl Hanser Verlag, München 2003. 300 Seiten, gebunden, 21,50 €ĽJoseph Brodsky: „Erinnerungen an Petersburg“. Deutsch von Sylvia List und Marianne Frisch. Mit Fotografien von Barbara Klemm. Hanser Verlag, München 2003, 13,90 € (auch als Hör-CD erhältlich)