: Kommissare spekulieren nicht
AUS BREMERHAVEN KIRSTEN KÜPPERS
Axel Petermann sitzt im Auto. Er fährt durch Bremerhaven, er fährt die Tatorte ab: den Platz, wo das Hotel gestanden hat. Die Straßen, die der Täter genommen haben muss. Die Wohnblocks, in denen er seine Opfer fand. Petermann guckt aus dem Seitenfenster, er schaut auf die Häuser, die Balkone, die Vorgärten, er redet nicht viel.
Petermann ist Kriminalbeamter, seit über 30 Jahren. Seit mehr als 20 Jahren befasst er sich mit Tötungsdelikten, ein Mann mit kinnlangen Haaren und dem melancholischen Blick eines Menschen, den die Welt nicht mehr erschreckt. Seit September hat Petermann noch einen zweiten Beruf. Er arbeitet als so genannter „Profiler“. Er leitet bei der Polizei in Bremen die neue Dienststelle „Operative Fallanalyse“.
Vor kurzem haben ihn die Kollegen aus Bremerhaven angerufen. Es gibt eine Vergewaltigungsserie, die Kollegen finden den Täter nicht, sie kommen nicht weiter. Petermann hat sich erst einmal die Akten besorgt.
Der Fall beginnt so: Eine Frau liegt in einem Hotelzimmer. Es ist eine laue Sommernacht, die 55-jährige Touristin ist müde von ihren Ausflügen in die Stadt, sie liegt auf dem Bett und liest Zeitung, durch das offene Fenster strömt die Wärme vom Tag. Gegen Mitternacht macht die Frau das Licht aus. Der Mann kommt eine gute Stunde später, etwa 1.30 Uhr. Das Zimmer liegt im Erdgeschoss, er steigt durch das Fenster. Der Mann drückt der Frau ein Kissen aufs Gesicht, sie hat Angst, es ist dunkel.
Hinterher beschreibt sie den Vergewaltiger als kräftigen Kerl im Alter zwischen 40 und 50. Er sei weder grob noch laut gewesen, eher höflich, sagt sie.
Die Polizeibeamten liefen durch das Hotelzimmer, sie hatten viele Fragen an die Frau. Hinterher gaben sie die Anhaltspunkte, die sie hatten, mit der Personenbeschreibung in ihre Datenbank ein. Es war August 1998, sie kamen mit den Ermittlungen nicht voran.
Ein knappes Jahr später wurden die Beamten zu einem neuen Vergewaltigungsfall gerufen. Das Opfer war eine 57 Jahre alte Frau. Sie lebte allein im Erdgeschoss eines Mehrfamilienhauses im Justus-Lion-Weg. Einen ganzen Tag und einen Abend hatte sie steif im Zimmer gesessen und gewartet, bis sie bei der Polizei angerufen hat, eine scheue, leise Stimme am Telefon. Der Täter war nachts durch die offene Terrassentür gekommen. Die Frau sagte, er habe eine muskulöse Figur. Und er sei nicht brutal gewesen.
Die Polizeibeamten fanden keine Spuren, auch auf der Terrasse nicht. Sie befragten die Nachbarn, aber niemand hatte etwas gesehen oder auch nur ein Geräusch gehört. Zwischen der Tat im Parkhotel und der Vergewaltigung im Justus-Lion-Weg sah die Polizei noch keinen Zusammenhang.
Die Serie ergab sich erst beim dritten Vorfall, einer weiteren Vergewaltigung, die im Justus-Lion-Weg passierte, knapp zwei Jahre später am 25. Mai 2001. Der Mann kam nachts um halb zwei, er kam über den Balkon in die Wohnung. Im Schlafzimmer drehte er der 22-jährigen Frau den Kopf zur Seite, damit sie sein Gesicht nicht sehe. Er drohte damit, sie umzubringen, wenn sie Anzeige erstatten würde.
Die Frau ging trotzdem zur Polizei. Sie beschrieb den Mann als etwa 30 Jahre alt, 1,75 Meter groß, mit kurzen, dunkelblonden Haaren. Er hatte hochdeutsch gesprochen, ohne Akzent. Als die Beamten DNA-Material sicherstellten, fanden sie eine Übereinstimmung mit der Tat im Hotel. Sie fertigten ein Phantombild an. Das Bild verteilten sie an Tankstellen, in Sportstudios, Sexshops, Videotheken und Friseursalons. Sie veröffentlichten es in der Zeitung, ein Regionalsender brachte einen Fernsehbeitrag. Sie hatten eine Spur, und die Suche ging jetzt richtig los.
Eine Energie, die ins Leere lief. „Das Ergebnis war arg, arg dürftig“, sagt der leitende Kommissar Martin Hohmeyer. Die wenigen Hinweise, die bei der Polizei eingingen, stellten sich allesamt als unbrauchbar heraus. Ein vermeintlich Verdächtiger entpuppte sich als Rentner mit Bauch, Feinripp-Unterhemd und dunklen Haaren. Nicht einmal die Täterbeschreibung passte. Den Unbekannten fand die Polizei nicht.
Es dauerte eineinhalb Jahre, bis der Mann wieder in eine Wohnung einstieg. Die vierte Vergewaltigung geschah am 22. Dezember 2002. Es traf eine 28-jährige Frau, die in einer Erdgeschosswohnung lebte. Sie schrie nicht, sie hat es über sich ergehen lassen. Die Polizei fand dieselben DNA-Spuren wie bei den vorangegangenen Taten.
Es war eine Serie, und in der Wiederholung musste etwas sein, das den Mann verrät, dachten die Beamten. Kommissar Hohmeyer und seine Kollegen gingen noch einmal die Fälle durch. Sie suchten nach Gemeinsamkeiten bei den Opfern. Vielleicht hatten alle denselben Friseur, denselben Briefträger, besuchen dasselbe Fitnessstudio? Sie fanden nichts. Hohmeyer wurde unruhig. An der Wand seines Büros hängen Urkunden von Marathonläufen, die der Kommissar in seiner Freizeit bestreitet. Er ist auch im Beruf keiner, der schnell aufgibt. „Ungeklärte Fälle beschäftigen einen immer“, sagt er.
Seit die Vergewaltigungsserie ihren Anfang genommen hat, ist viel Zeit vergangen. Eine Sachbearbeiterin im Kommissariat ist bereits in Pension, das Parkhotel ist inzwischen abgerissen. Und die Polizei hat keine Ahnung, wer der Täter ist und wo er steckt. Es könnte sein, dass er in Bremerhaven herumläuft – mit einem Plan im Kopf. Es könnte sein, dass er wartet. Es gibt eine Stille in der Stadt, die etwas Bedrohliches hat.
Im vergangenen September hat Hohmeyer dann beschlossen, in Bremen anzurufen. Er wählte die Nummer seines Kollegen Axel Petermann.
Petermann steigt aus dem Auto, er läuft über den Parklatz und hinein in den roten Klinkerbau der Bremerhavener Polizei. Nach dem Anruf hat er in Fachbüchern nachgeschlagen. Er hat von vorne angefangen. Er hat Akten gelesen, er hat sich mit Sachbearbeitern im Kommissariat zusammengesetzt, er ist die Wege abgefahren, er hat einen Psychologen geholt, – denn so funktioniert Profiling, die „operative Fallanalyse“: Verschiedene Spezialisten kommen zusammen und reden.
Der Psychologe ist wichtig. Er ist einer, der sich mit Vergewaltigern auskennt, weil er sie seit Jahren in der Psychiatrie in Bremen therapiert. In den USA, wo die Methode der Fallanalyse in den 70er-Jahren entwickelt wurde, haben sie festgestellt, dass es Gemeinsamkeiten zwischen Tätern gibt, dass Täter nach ähnlichen Mustern vorgehen.
Dann hat sich Petermann reingedacht in den Täter. Er ist förmlich hineingekrochen in ihn. „Wir gehen davon aus, dass jeder Täter bedürfnisorientiert handelt“, erklärt er. „Aus der Beschreibung des Verhaltens lässt sich dann ein mögliches Profil bestimmen.“ Petermann hat das Monster weggeschoben, er hat den Mann rangeholt zu sich. Er hat sich angesehen, welche Wege er gegangen ist, welche Opfer er sich gesucht hat, wie er gesprochen hat, die Art, wie er die Frauen missbraucht hat. „Ich leb in dem Fall“, sagt Petermann, sein Blick hat etwas angespannt Zielgerichtetes. Er ist ganz nah dran.
Vorher hatten sie nur ein Phantombild, eine flache, undeutliche Zeichnung. Petermann hat das Bild aufgefüllt mit Eigenschaften. Jetzt hat die Polizei einen Menschen vor sich, ein Profil. Sie sucht jetzt nach einem allein stehenden Mann. Vielleicht wohnt er noch bei den Eltern. „Wahrscheinlich übt er einen einfachen Beruf aus, verdient gerade so viel, wie er zum Leben braucht“, meint Petermann, das würde dem Raster entsprechen, das in der Literatur von ähnlichen Tätern entworfen wird.
Der Mann investiert viel Zeit in die Planung seiner Taten. „Wahrscheinlich hat er Probleme kommunikativer Art. Er ist sportlich und viel unterwegs. Der Mann beobachtet seine Opfer. Er weiß, dass die Frauen alleine sind. Er wartet, bis sie schlafen.“
Die Polizei geht von einem so genannten Gentleman-Vergewaltiger aus. So werden Täter bezeichnet, die ihre Opfer sexuell misshandeln und sich dabei in die Rolle des Liebhabers imaginieren. Der Vergewaltiger in Bremerhaven hat eines seiner Opfer wach geküsst, er hat sanft gesprochen, er hat die Frauen nicht geschlagen. Ein Opfer hat ihn sogar als „recht liebevoll“ beschrieben.
Petermann vermutet, dass der Täter ausgedehnte Fantasien pflegt. Die Vergewaltigungen seien das Ausleben davon. „Wahrscheinlich verbringt er viel Zeit in Videotheken, um sich mit Materialien zu versorgen, die ihn stimulieren“, sagt der Profiler. „Er ist auch voyeuristisch unterwegs.“
Petermann ist vorsichtig, er streicht sich die Haare langsam hinters Ohr, bevor er sagt: „Das alles sage ich im Konjunktiv.“ Es könnte sein, dass sich die Dinge anders verhalten. Aber Petermann kennt die Statistiken und die Formeln, wonach sich das Verhalten von Tätern berechnen lässt. Er spekuliert nicht, er spricht von Wahrscheinlichkeiten, die sich aus der Untersuchung ähnlicher Fälle ergeben haben.
Danach haben die Beamten jetzt auch das Suchfeld eingeschränkt. Sie haben sich die Lage der Tatorte angeguckt und daraus ein drei Quadratkilometer großes Gebiet errechnet. „Irgendwo hier muss er sein“, sagt Petermann und malt mit dem Finger einen Kreis auf den Stadtplan. Der Plan hängt an der Wand im Büro seines Kollegen Hohmeyer.
Kommissar Hohmeyer guckt auf den Stadtplan. Er weiß auch nicht, ob sie den Mann diesmal kriegen. Er weiß nur, dass die Fallanalyse schon bei vielen ungelösten Verbrechen geholfen hat. Er zieht die Unterlagen zu sich heran. Sie haben ja auch gar keine andere Wahl. Sie müssen die Sache jetzt ausprobieren, weil es diese Unruhe gibt. Eine Anspannung, die sie antreibt. „Wir kreisen ihn ein!“, sagt Hohmeyer. So optimistisch sind sie jetzt schon.
Heute Abend wird die Sendung „Aktenzeichen XY … ungelöst“ über die Vergewaltigungsserie berichten. Die Polizeibeamten haben ihr Material an die Redaktion gegeben. Jetzt hoffen sie auf die Menschen vor den Fernsehern. Sie hoffen, dass jemand den Mann erkennt, der über die Balkone kommt. Sie hoffen, dass jemand anruft.