„Der Geist ist im Körper“

Episoden erinnern: Ein Gespräch mit der Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte über den neuen Stellenwert und die Verklärung des Körpers und die Schwierigkeit, von Aufführungen zu erzählen

von KATRIN BETTINA MÜLLER

taz: Sie sind Leiterin des Graduiertenkollegs „Körperinszenierungen“, das seit sechs Jahren arbeitet und vor kurzem die Tagung „Utopische Körper“ an der Volksbühne veranstaltet hat. Ist der Körper ein Modethema geworden?

Erika Fischer-Lichte: Er ist in mancher Hinsicht in der Tat ein Modethema geworden. Schauen Sie sich um in unserer Kultur: Fitness-Studios, Kosmetik, Schönheitschirurgie, neue Sportarten – die Menschen sind in einem viel stärkeren Maße mit ihrem Körper befasst, als sie es früher waren. Insofern stimmt der triviale Gedanke: Der Körper, der von schwerer Arbeit entlastet ist, wird jetzt zu einer Art von Selbstzweck. Das ist modisch an dem Thema.

Aber was uns daran interessiert, ist der neue Stellenwert des Körpers: Die alte Gegenüberstellung von Körper und Geist, Leib und Seele greift nicht mehr. Ob in der Anthropologie oder in der Hirnforschung, Sie finden zunehmend die Auffassung, dass es Geist ohne Leib gar nicht geben kann. Dafür gibt es den schönen englischen Ausdruck: embodied mind. Ein Geist, der nur im und durch den Körper in Erscheinung treten kann. Das verleiht dem Körper ein ganz neues Gewicht, er ist nicht mehr nur das lästige Anhängsel, von dem sich die Seele befreien muss. Es wird vielmehr deutlich, dass es auch Spiritualität nur geben kann, weil wir Leib sind. Dadurch entsteht ein neues Menschenbild.

Heute Abend halten Sie einen Vortrag „Verklärung oder Präsenz“ im Rahmen der Ringvorlesung „Transfigurationen. Ästhetische Strategien der Verklärung des Körpers“. Wie ist dieses Thema entstanden?

Es erklärt sich aus dem neuen Stellenwert, der dem Leib heute zukommt. In der abendländischen Tradition, sofern sie leibfeindlich ist, spielt der verklärte Leib eine große Rolle, der Leib Gottes. Aber dieser Gotteskörper ist der auferstandene Leib, und zwar im Fleisch auferstanden. Da wird nicht ein Leib gefordert, der ein Astralleib wäre. Das haben wir interessanterweise in der bildenden Kunst häufig, dass es um die Darstellung einer Art von Astralleib geht. Viele haben in die neuen Medien die Hoffnung gesetzt, dass mit ihnen ein solcher Astralleib zu schaffen wäre. Für mich dagegen ist das Interessante, dass die Verklärung tatsächlich den leiblichen Körper meint. Nur weil er Fleisch ist, kann er in den Stand der Verklärung eintreten.

Wo ist denn der Ort, an dem diese Verklärung geschieht?

Das ist eine wichtige Frage. In den Künsten haben wir zwei verschiedene Modelle: Ein Ort ist das Theater, ein andere wäre Film, Video und die neue virtuelle Welt. Auf dem Theater erscheint der verklärte Leib in dem, was wir Präsenz nennen: Da erscheint er in besonderer Weise als embodied mind. Die Medien dagegen versuchen, die Körperlichkeit abzustreifen und den Leib nur noch als Lichtspiel erscheinen zu lassen, und darin sehen sie seine Verklärung.

Wie erleben Sie das Verhältnis zwischen der Theaterwissenschaft und dem, was aktuell produziert wird? Ist das immer nur ein Nacharbeiten in der Theorie?

Wir wären arbeitslos, wenn die Theater nicht arbeiten würden. Was wir tun, ist darüber nachzudenken, was da getan wird. Dabei entwickeln wir selbstverständlich auch ganz andere Ideen als die Künstler. Auch wenn die Theatergeschichte ebenfalls einen wichtigen Platz einnimmt, ist für Theaterwissenschaft als eine Art Kunstwissenschaft das Primäre das Gegenwartstheater.

Immer wieder verlangen wir in den Seminaren, dass die Studierenden Erinnerungsprotokolle nach ihren Theaterbesuchen schreiben sollen: Wie erinnere ich, was ich wahrgenommen habe? Sie können über Theater nur nachdenken, wenn sie sich an die Aufführung erinnern. In einem Buch kann man nachblättern und zurückblättern, Bilder kann man immer wieder anschauen, aber wenn eine Aufführung abgesetzt ist, ist sie vorbei. Sie müssen sich erinnern.

Mir scheint, dass die Arbeit, Theater zu erinnern, heute immer komplizierter wird. Das Theater bedient sich vieler Formen der Performance und wechselt zwischen den Ebenen der Fiktion und einer Alltagswirklichkeit, die Darsteller und Publikum teilen. Durch die Einbeziehung anderer Medien kommen oft noch andere Schauplätze dazu. Gibt es nicht eine Tendenz, das Erzählbare aufzulösen?

Viele Aufführungen sind gar nicht zu erzählen. Gleichwohl sind sie zu erinnern und zu beschreiben. Solange ich eine Geschichte nacherzähle, kann ich mich an diesem Gerüst entlanghangeln. Wenn die Geschichte wegfällt, wenn es keine Psychologie der Figuren gibt, dann sind es tatsächlich bestimmte Szenen, die in Erinnerung bleiben. Ich erinnere anders. Dazu brauche ich, was in der Gedächtnisforschung das episodische Gedächtnis genannt wird. Daneben haben wir das semantische Gedächtnis, das erinnert Geschichten, Begriffe. So wie Theater heute oft funktioniert, muss die Erinnerung von Episoden ausgehen. Sie können nicht das Ganze erinnern, das ist auch in Ordnung.

Wie sehen Sie die Zukunft der Theaterwissenschaft? Werden Sie eingeholt von der ökonomisch bedingten Krise, in die jetzt die Theater selbst geraten?

Erst einmal denke ich, die Theater sind nicht in einer Krise. Ökonomisch ist bei uns im Moment alles in einer Krise. Wenn man Theatergeschichte betreibt, dann weiß man, dass seit mehr als zweihundert Jahren immerzu von einer Krise des Theaters die Rede ist.

Das kann ich nicht mehr ernst nehmen. Gerade weil das Theater die einzige Kunstform ist, in der Darsteller und Zuschauer gleichzeitig leiblich anwesend sind, womit ein bestimmtes anthropologisches Grundbedürfnis abgedeckt wird, gehe ich davon aus, dass es Theater immer geben wird. Der Erfolg der Theaterwissenschaft hängt nicht davon ab, ob Theater in der Krise ist oder nicht. Sie verdankt ihn vielmehr ihrer Fähigkeit, zwischen ihrem Gegenstand und anderen kulturellen Bereichen neue und interessante Beziehungen herzustellen. Dies war zum Beispiel ein großes Schwerpunktprogramm der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur „Theatralität“, das Theater als Modell in den Kulturwissenschaften untersucht. Der Sonderforschungsbereich „Kulturen des Performativen“ ging ebenso wie das Graduiertenkolleg „Körperinszenierungen“ von der Theaterwissenschaft aus.

Alles Bereiche, in denen sich die Theaterwissenschaft von ihrer Herkunft aus der Literaturwissenschaft wegbewegt hat in Richtung Anthropologie?

Interessant ist, dass Max Herrmann, der die Theaterwissenschaft in Berlin begründete, deutlich betont hat, dass das Wichtige am Theater nicht der Text, sondern die Aufführung sei.

Das ist auch unser Punkt. Ob wir uns Sport, Rockkonzerte, politische Versammlungen anschauen, das sind alles Aufführungen. Theaterwissenschaft ist die Wissenschaft von Aufführungen. Gerade weil wir in einer Zeit leben, in der Aufführungen eine große Rolle spielen, hat Theaterwissenschaft ihre Stunde. Da ergeben sich unglaublich interessante Perspektiven gerade auch im Hinblick auf Politik, Geschichte, Soziologie. Das macht im Moment Theaterwissenschaft zu einer starken Wissenschaft.

Vortrag: „Verklärung oder Präsenz“. 18.00 Uhr, Institut für Theaterwissenschaft, Grunewaldstr. 35, 12165 Berlin