: Tödliche Überraschung
Israels Politiker wollen die Hamas mit der Übermacht der Armee in die Knie zwingen – und im Februar Wahlen gewinnen
Der Gazastreifen ist ein hermetisch abgeriegelter Küstenstreifen zwischen Israel und Ägypten. Er ist 40 Kilometer lang und bis zu 14 Kilometer breit. 1,5 Millionen Palästinenser leben dort auf 360 Quadratkilometern. Damit ist Gaza etwa so dicht besiedelt wie Berlin. Der Gazastreifen war nie unabhängig. Nach dem Ende des Osmanischen Reichs war er britisches Mandatsgebiet, anschließend gehörte er zu Ägypten. Im Sechstagekrieg 1967 eroberte Israel den Küstenstreifen. Bis zu Israels Abzug im August 2005 lebten dort 8.500 jüdische Siedler. Mittlerweile sieht Israel den Gazastreifen als ausländisches Gebiet an und betrachtet die Besatzung als beendet. Formal gehört Gaza zu den Palästinensischen Autonomiegebieten, doch seit die radikalislamische Hamas die gemäßigte Fatah von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas vor eineinhalb Jahren gewaltsam vertrieben hat, hat sich Gaza de facto vom Westjordanland abgespalten. Israel hat gegen Gaza eine Wirtschaftsblockade verhängt. SIM
AUS JERUSALEM SILKE MERTINS
Selten haben die drei rivalisierenden Politiker so einträchtig beieinander gesessen: Israels Ministerpräsident Ehud Olmert, flankiert von Verteidigungsminister Ehud Barak und Außenministerin Zipi Livni. Es ist Olmert, der zu den eilig herbeigerufenen Journalisten im Konferenzraum des Verteidigungministeriums am Samstagabend in Tel Aviv spricht. Wenige Stunden nach dem Militärschlag im Gazastreifen – dem blutigsten seit Jahrzehnten – mahnt er seine Landsleute zu Geduld, schwört auf harte Zeiten ein, warnt vor Gegenschlägen.
Doch Olmert ist ein Mann der Vergangenheit. Er scheidet nach den Wahlen am 10. Februar aus dem Amt. Alle blicken in diesen Tagen auf die beiden Hauptakteure der israelischen Politik, die mit ernsten Gesichtern neben ihm sitzen: den berechnenden Exgeneral Barak von der Arbeitspartei, der die Operation plante. Und Livni, die kühle Diplomatin und mögliche Nachfolgerin Olmerts von der Regierungspartei Kadima. Sie hat für den Militärschlag internationale Unterstützung organisiert, mit einer gut vorbereiteten PR-Schlacht hält sie weltweit die Kritiker in Schach.
„Genug ist genug“, hat Livni immer wieder betont. Israel werde und könne sich nicht bieten lassen, dass Extremisten aus dem palästinensischen Gazastreifen hunderte von Raketen auf die Zivilbevölkerung abfeuerten. „Hat irgendjemand wirklich geglaubt, dass Israel sich zurücklehnt und den Raketen zuschaut?“, sagte einer ihrer Sprecher. Hat die Hamas, die seit eineinhalb Jahren den Gazastreifen kontrolliert, vergessen, wie gewaltig die Schlagkraft der israelischen Armee sein kann?
Tagelang versuchten ägyptische und israelische Emissäre, neue Verhandlungen über eine Verlängerung der Waffenruhe zwischen der Hamas und Israel einzufädeln. Denn ein Waffengang ist für Politiker im Wahlkampf ein hohes Risiko: Geht er schief, ist das Schicksal von Barak und Livni besiegelt. Doch Hamas spielt auf Risiko. Sie wollen einem neuen Deal nur dann zustimmen, wenn Israel die Wirtschaftsblockade Gazas aufgibt. Seit dem Ende der Feuerpause am 19. Dezember hagelten 230 Raketen auf den Süden Israels nieder. Tödlich getroffen wurde zwar erst am Samstag ein Mann. Aber ein normales Leben ist längst nicht mehr möglich in den Ortschaften rund um Gaza. Radio und TV interviewten nonstop besorgte Eltern aus der Raketenzone, die Zeitungen machten mit Bildern von Kindern auf, denen die Panik ins Gesicht geschrieben steht. Die Regierung sah sich mit enormem öffentlichen Druck konfrontiert und stellte der Hamas ein Ultimatum.
Barak hat jedoch nicht bis zum Ablauf der Frist gewartet. Er setzte auf den Überraschungseffekt. Am Samstagvormittag ließ er die Luftwaffe gewaltig zuschlagen. „Mein Haus bebte so stark, dass ich dachte, eine Rakete wäre in meinen Garten eingeschlagen“, erzählt ein Anwohner in der israelischen Stadt Sderot, einen Kilometer von der Grenze entfernt. Erst nach einigen Minuten begriff er, dass Gaza-Stadt von so massiven Explosionen erschüttert wurde, dass sie bis nach Israel die Erde vibrieren ließen. „Wir sind dankbar, dass endlich etwas geschieht“, sagt eine Mutter von vier Kindern aus Netivot im israelischen Radio. „Auch wenn wir jetzt im Bunker sitzen.“ Denn schon eine halbe Stunde nach den Luftangriffen in Gaza mit über 270 Toten flogen wieder Raketen aus Gaza, darunter am Sonntag auch erstmals solche mit einer Reichweite von 40 Kilometern, die die Außenbezirke der Hafenstadt Aschdod erreichten.
„Barak ist zurück“, lautete ein Kommentar in der israelischen Tageszeitung Haaretz. Barak, der am höchsten dekorierte Soldat Israels, berüchtigt für seine soziale Inkompetenz, will nun alles richtig machen, was im Libanonkrieg vor zweieinhalb Jahren schiefgelaufen ist: entschlossen und strategisch durchdacht zuschlagen und sich maßvolle Ziele setzen. Erreicht werden soll eine „neue Realität“ in Gaza, eine Schwächung der Hamas. Er will die Extremistenorganisation Hamas nicht stürzen oder „vernichten“, wie sein Vorgänger über die libanesische Hisbollah gesagt hatte. Die Hamas soll vielmehr daran erinnert werden, wie hoch der Preis für Angriffe auf Israel ist. Abschreckung lautet das Stichwort. Gleichzeitig ist dies die vielleicht letzte Gelegenheit, militärisch zu handeln, bevor der neue US-Präsident Barack Obama am 20. Januar sein Amt antritt. Der hatte zwar bei seinem Besuch in Sderot während seiner Wahlkampagne Verständnis gezeigt. Doch ist fraglich, ob er die israelische Reaktion als verhältnismäßig ansieht.
Auch vielen Israelis wird langsam mulmig angesichts der hohen Zahl der Opfer in Gaza. Wütende Racheschwüre hallen durch die arabische Welt. Das palästinensische „Volksbefreiungskomitee“, eine Art Sammelbecken für militante palästinensische Gruppen, prahlt, man verfüge über 10.000 Raketen; Israel werde keinen Tag standhalten können, werde die Armee wirklich eine Bodenoffensive wagen. Auch neue Entführungen israelischer Soldaten seien geplant. Selbstmordattentate in Israel sollen wieder zur Tagesordnung gehören.
Der Krieg hat begonnen, und er wird wohl nicht innerhalb von Tagen zu Ende sein. Ob Barak und Livni eine Exit-Strategie haben, weiß niemand.