: Hohle Kacheln
„ES Express“, eine Dokumentarfilmreihe in vier Folgen, zeigt eine sehr subversive Stadtrundfahrt mit Experten
Die Filmemacher sind so vorgegangen: Sie haben einen beheizten Kleinbus gemietet, sie haben ein paar Experten gesucht, Fachleute aus Indien, der Türkei, aus Polen oder Deutschland, sie haben sie in den Bus gesetzt und sind mit ihnen durch Berlin gefahren. Die Experten mussten vor laufender Kamera die Stadt erklären, einen ganzen Tag lang. Natürlich führten diese Besichtigungstouren die Reisegruppe an besonders sehenswerte Orte: ins Urban-Krankenhaus, in ein vietnamesisches Einkaufszentrum, zu Moscheen in Hinterhöfen, in Hochhauswohnungen nach Marzahn usw. Herausgekommen ist bei diesen Stadtrundfahrten eine schöne Dokumentarfilmreihe in vier Folgen. Sie heißt „ES Express“ und gehört zur derzeit in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz stattfindenden Großunternehmung „ErsatzStadt“.
Weil hier das Thema Stadt von allen möglichen provisorischen, subversiven, politischen und kulturellen Blickwinkeln aus, also quasi von den Rändern her aufgearbeitet wird, weil der Bühnenbildner Bert Neumann in diesem Sinne vor einiger Zeit den großen Theatersaal der Volksbühne zu einer unwirtlichen Containerlandschaft umgebaut hat, und weil die ES-Express- Filmreihe auch irgendwie die Brücke von der Institution nach draußen schlagen soll, startet denn auch die erste Bustour vom Rosa-Luxemburg-Platz gleich hinein in die Mitte Berlins, dahin, wo die neuen Zentren der Repräsentation schon warten.
Als Fachleute sind auch Jochen Becker und Stefan Lanz in den Bus gestiegen, beide Metropolenforscher, im Nebenberuf Kuratoren von ErsatzStadt. Und wer schon immer mal ein paar kritische Sätze zur Nachwendebebauung Berlins hören wollte, der muss nur erleben, wie Lanz und Becker nun den Bus in Richtung Pariser Platz lenken, wie sie aussteigen und mit spöttischen Gesichtern die hohlen Kacheln am Hotel Adlon abklopfen. Becker zeigt auf die Straßencafés und spricht vom falschen Ideal „von Sonnenschein und bürgerlicher Dauerfreizeit“, das hier vermittelt wird, Lanz guckt auf die historisierenden Fassaden und redet vom „kolonialistischen Charakter der Architektur“. Eine messerscharfe Abrechnung ist das, es dauert nur wenige Minuten. Dann fährt der Bus weiter zur Autozulassungsstelle nach Kreuzberg, der nächsten Station. Auch hier dreht sich alles um gegensätzliche Definitionen von Urbanität, um die Differenz zwischen dem propagierten Abziehbild von Berlin und der Realität in behelfsmäßigen Buden. In einer weiteren Sequenz bezeichnet ein Oberarzt vom Urban-Krankenhaus seinen Arbeitsplatz sogar als „Sahelzone Deutschlands“.
Dass indes auch bei den ES-Express-Experten die Grenzen von eigener Wahrnehmung, professioneller Analyse und Klischee schnell durcheinander geraten können, macht die zweite Folge der Reihe deutlich. Hier war eine Gruppe von Frauenrechtlerinnen und Künstlern aus Bombay mit einigen Berliner Aktivisten der Kanak-Attak-Bewegung unterwegs. Während die jungen Leute aus Kreuzberg stolz ihre Straßen vorführten, dagegen bei ihrem Stop in Marzahn für das Leben am Stadtrand nur verächtliche Bemerkungen übrig hatten, zeigten sich die Gäste aus Indien regelrecht begeistert vom metropolitanen Charakter der Plattenbauten am Stadtrand. „Oh, I like the urban design!“, rief eine der Frauen aus Bombay beim Blick aus dem Busfenster. Die Berliner zuckten hilflos die Schultern. Und man war froh, dass es noch das Interview mit der russischen Ärztin gab.
Seit Jahrzehnten wohnt die Ärztin im achten Stock eines Hochhauses. Im Film brachte sie das schwierige Verhältnis von Zentrum und Peripherie wohl am besten und einleuchtender als die anderen auf den Punkt: „Jeden Tag gibt es hier einen herrlichen Sonnenuntergang“, sagt sie. „Und wer Marzahn mit Mitte vergleicht, vergleicht Brot mit Torte. Und ich mag nun wirklich nicht jeden Tag Torte essen.“
Heute Abend werden die ersten beiden Sendungen von ES Express im Prater-Kino gezeigt. Protagonisten sowie die Filmemacher Micz Flor, Merle Kröger und Philip Scheffner werden anwesend sein. KIRSTEN KÜPPERS
Heute, 20 Uhr, PraterKino, Kastanienallee 7–9, Prenzlauer Berg