: Geiz ist gaga
SERIE „AGENDA 2010“ (VIII): Die Sparpolitik der Bundesregierung ist gescheitert. Wenn sie die Wirtschaft flottmachen und Arbeitsplätze schaffen will, muss sie Geld ausgeben
Egal ob Brüssel die hohen Staatsschulden des Bundes anprangert, ob hierzulande die Steuereinnahmen sinken oder das Bruttoinlandsprodukt ins Minus rutscht, der frühere Lehrer Hans Eichel reagiert wie ein braver Hausmann. „Wir müssen noch mehr sparen“, beteuert der Sozialdemokrat und nährt den unheilvollen Verdacht, der Bundesfinanzminister möchte der deutschen Volkswirtschaft mit ihren 80 Millionen Menschen dieselben Rezepte verpassen wie einem Zwei-Personen-Haushalt in Neuenkirchen.
Seit mehr als zwei Jahrzehnten regiert in unserem Land das Leitbild „Sparen, sparen, sparen“. Unser Staat spart, wo er nur kann. Dieser Geiz wurde nur notgedrungen von der Angliederung der DDR unterbrochen – neben der ausdauernden Massenarbeitslosigkeit der wesentliche Grund für den öffentlichen Schuldenberg, nicht etwa eine ungezügelte Ausgabenlust, wie Bild und Spiegel vermuten („Wir leben über unsere Verhältnisse“).
Gespart wurde ebenfalls durch hunderte mehr oder weniger unscheinbare Eingriffe beim Sozialen und der Gesundheit: Da wurde hier ein wenig weniger Arbeitslosengeld ausgezahlt, dort Sozialhilfeempfängern die Karte für den öffentlichen Nahverkehr gestrichen und bundesweit die Zahlung für moderne Zahntherapien durch die Krankenkassen eingestellt. Auch die Unternehmen ließen sich verleiten und sparten seit 2001 zwölf Prozent ihrer Investitionen ein, und sie sparten an Löhnen, wo es nur ging. Und auch die Verbraucher folgten dem Werbespruch „Geiz ist geil“ aus vollem Herzen, mit dem volkswirtschaftlich fatalen Ergebnis, dass die Sparquote trotz real stagnierender Einkommen anstieg, immer mehr Geld also auf die hohe Kante gelegt wurde und selbst so genannte Besserverdienende sich die teure Fernreise lieber sparten.
Wenn aber Staat, Unternehmen und Verbraucher sparen, statt ihr Geld mit vollen Händen auszugeben, steht es schlecht um die Wirtschaft, und so fällt nach zwei Jahrzehnten staatlicher Sparpolitik die Bilanz bescheiden aus. Gebracht hat die ganze Pfennig- und Centfuchserei wenig, jedenfalls keinen Konjunkturboom und keine Jobs für Arbeitslose.
Trotzdem fordert die sparliberale Elite von Medienkanzler Schröder bis zum mächtigen Unternehmerpräsidenten Hundt, noch mehr zu sparen – und nun am liebsten richtig radikal. Möglicherweise ist manchem Politiker und Konzerngott der Durchblick verloren gegangen, seit die Brillen der Normalsterblichen nicht mehr von den sparsamen Krankenkassen bezahlt werden. Wie dem auch sei, Agenda 2010, Rürup-Rentenreform und das Herumbasteln am Gesundheitswesen sind vor allem eins: weitere Sparpakete.
Wer jedoch noch mehr spart, gibt folglich noch weniger Geld aus, und das würde die deutsche Volkswirtschaft endgültig in die Rezession treiben. Übrigens ohne kapitalistische Not: So stürmen die deutschen Konzerne international immer neue Bastionen, die Exporte steigen und steigen. Aber zugleich dümpelt die heimische Nachfrage müde vor sich hin. „Seit zehn Jahren halten die Wachstumsunterschiede zwischen der gedämpften Inlandsnachfrage und dem höheren Nachfragewachstum auf den Auslandsmärkten an“, stellt das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung resigniert fest. Die deutschen Ausfuhrrekorde zeigen, wie es trotz Lohnnebenkosten wirklich um die globale Wettbewerbsfähigkeit steht, nämlich hervorragend. Die fehlende Binnennachfrage – hierdurch macht die deutsche Wirtschaft immer noch zwei von drei Euro Umsatz – ist gleichzeitig Beweis für die verfehlte Sparpolitik in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Im Ergebnis hinkt der deutsche Außenhandels-Europameister beim internen Wachstum seit Jahren hinter der flotteren EU-Konkurrenz hinterher.
Dass Sparkonzepte oft falsch sind, hat schon ein gewisser John Maynard Keynes während der Weltwirtschaftskrise in den Dreißigerjahren gelernt. Der Ökonom glaubte: Volkswirtschaften, die in einem Tief dahindümpeln, benötigen einen „externen“ Nachfrageschub, um wieder in Fahrt zu kommen. Klassischerweise bewirken dies zusätzliche Staatsausgaben. Seinerzeit hatten die Regierungen mit rigiden Sparprogrammen auf den Schwarzen Freitag an der Wall Street reagiert und damit letztlich die Arbeitslosenzahlen dramatisch in die Höhe getrieben.
Auch heute werden Unternehmen nicht von Sparappellen, sondern allein von gierigen Käuferschlangen bewegt, mehr zu produzieren und mehr Menschen einzustellen. Um einkaufen zu können, brauchen die Menschen Geld in der Tasche und obendrauf die Gewissheit, auch morgen wieder neues Geld zu verdienen. Wirtschaft ist nämlich zur Hälfte Psychologie. Alles Binsenweisheiten? Sicher, aber viele Ökonomen und Feuilletonisten scheinen sie vergessen zu haben.
Glücklicherweise zeigen uns einige Länder, wie es auch anders und besser geht. So betrieb Großbritannien eine erfolgreiche antizyklische Wirtschaftspolitik – eine Politik, die auch der SPD einmal vertraut war. Dazu verschuldeten sich die öffentlichen britischen Haushalte, bis zu 8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts – Maastricht erlaubt unserem Euroland nur 3 Prozent –, um so die Konjunktur durch zusätzliche Staatsausgaben anzukurbeln. Zugleich stiegen die Reallöhne viel, viel schneller als in Deutschland und damit die Nachfrage. Die Deutsche Bank lobte den „kräftigen Konsum“ in England. Zu Recht, denn auch deshalb wuchs die Wirtschaft dort seit 1996 jährlich um satte 2,5 Prozent.
Ähnlich gut schneidet Frankreich ab. Hier setzt selbst die konservative Regierung auf höheren privaten und staatlichen Verbrauch. Selbst im scheinbar neoliberalen Musterland setzt die US-Regierung auf (konservativen) Keynesianismus und kurbelt Nachfrage und Kauflust an – mal mit neuen Schulden im In- und Ausland, mal mit einer Steuersenkung.
Die amerikanischen, französischen und britischen Beispiele bestehen nicht allein aus solchen süßen Rosinen, aber sie zeigen, dass alternative Wege gegangen werden können. Gewerkschafter und Sozialdemokraten, Grüne und Sozialisten haben uns diverse sinnvolle Pläne vorgestellt, um die dafür nötigen Finanzmittel bereitzustellen. Die Palette beginnt mit einer neuen öffentlichen Kreditaufnahme. Gefordert werden auch Vermögen- und Erbschaftsteuern und schlechtestenfalls eine Erhöhung der Mehrwertsteuer sowie Mindestabgaben für Unternehmen.
Das so gewonnene Geld müsste nun angesichts der hohen Staatsschulden allerdings profitabel investiert werden, beispielsweise in Gesundheitsprävention, Bahn und Infrastruktur. Wie auch immer die staatlichen Ausgaben finanziert und investiert werden, eines sollte bei der Ausgabenoffensive erste Priorität haben: die Umverteilung von brachliegendem, erspartem Geld der „Reichen“ zugunsten der „Armen“.
HERMANNUS PFEIFFER