: Schwarzes Eis
Ein Buch über die Solowetzki-Inseln im hohen Norden – Russland en miniature
Jetzt im Frühjahr werden die Tage für die gut 1.000 Bewohner der Solowetzki-Inseln wieder länger und bringen nach monatelanger Polarnacht eine bizarre Mischung aus landschaftlicher Schönheit und zivilisatorischer Verwahrlosung ans nördliche Licht. Die Kreuze und Zwiebeltürme einer der ältesten Klosteranlagen Russlands spiegeln sich ebenso im Graugrün des Wassers der 500 Seen und Flüsse wie die erbärmlichen Reste einer gescheiterten Utopie: Stacheldraht und Beton, die Ruinen eines Straflagers, eines der ersten Gulags der Sowjetunion. Kloster und Stacheldraht, das sind die Symbole der Inseln.
Die hölzernen Klosteranlagen waren einst die Vorposten des zaristischen Imperiums. Die heidnische Kultur der Nordvölker wurde brachial ausgerottet, und bereits die Zaren wandelten das Kloster zum Gefängnis um und machten aus Solowki einen Verbannungsort. Die Sowjets schlossen schließlich das Kloster, ersetzten Kreuze durch rote Sterne, wandelten Kirchen in Pferdeställe und Bäckereien um und machten die Inseln, deren größte immerhin mehr Land als Malta umfasst, zum Ort des Grauens, der aber auch ein Theater, eine wissenschaftliche Bibliothek mit 30.000 Bänden, eine Wochenzeitung, die man in der ganzen Sowjetunion abonnieren konnte, einschloss. Vom Lager blieb nur ein Gefängnis übrig, die Inseln wurden zum Militärposten.
Der Postkommunismus sowjetischer Prägung brachte den endgültigen Verfall, rostende Schiffwracks im Hafen, verfallende Gebäude und Menschen, die nur bleiben, weil es für sie andernorts auch keinen Platz gibt.
Der polnische Journalist Mariusz Wilk, einst Pressesprecher von Solidarność in Danzig, hat Solowki nicht einfach bereist. Seit 1993 lebt er auf den Inseln, mit dem Rücken zum Polarkreis – auf der Suche nach Russland, das, wie der Dichter Tjutschew im 19. Jahrhundert schrieb, mit dem Verstand nicht zu begreifen sei. Die Inseln sind für Wilk ein Russland en miniature – Staatsmacht, Kloster, Zeitung und Lokalradio, Gefängnis, marodes Krankenhaus, wenig Business, dafür eine eigene Mafia und jede Menge Alkoholiker und minderjährige Prostituierte. Russland – das ist für Wilk Leben unter widrigen Bedingungen. Trotz alledem. SABINE BERKING
Mariusz Wilk: „Schwarzes Eis. Mein Russland“. Zsolnay Verlag, Wien 2003, 280 Seiten, 19,90 € Organisierte Reisen bietet an: www.lernidee.de