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Archiv-Artikel

Berlin muss das Rad neu erfinden

Die alte BVG war das bessere Modell, denn da durfte sie noch unternehmerisch denken. Doch warum nicht zurück zu den Wurzeln – und damit zurück zu einem finanzierbaren Nahverkehr? Ein Essay

„Die Berliner Nahverkehrspolitik der letzten 10 Jahre ist katastrophal“

VON ANDREAS KNIE

Berlin war mal der Nabel der Welt. Wenigstens im Nahverkehr. Die Gründung der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) als Aktiengesellschaft im Jahre 1928 galt als Meilenstein. Erstmals waren U-Bahn, Bus und Straßenbahn in einer Hand und konnten mit einem einzigen Fahrschein, dem neuen Einheitsfahrschein, benutzt werden. Das Unternehmen erhielt ein modernes Management und war für seine Produkte und Dienstleistungen selbst verantwortlich.

Doch leider ging diese Selbstständigkeit nach 1933 verloren. Unter den Nationalsozialisten wurde mit Einführung des Personenbeförderungsgesetzes der gesamte öffentliche Nahverkehr in Deutschland als staatliche Aufgabe definiert und einer behördlichen Genehmigungs- und Erbringungsverpflichtung unterzogen. Die BVG wurde gemäß dieser Philosophie zu einer Anstalt des öffentlichen Rechts umgebaut. Doch während die Nazis aus der Regierung verschwunden sind, blieb die von ihnen organisierte Praxis des behördlich angeordneten und abgewickelten Nahverkehrs bis heute erhalten: Der Staat hat per Gesetz den so genannten Aufgabenträger ermächtigt, über Tarife, die Linienführung oder gar den Fahrplan zu wachen. Einen unternehmerischen Freiraum gibt es im öffentlichen Verkehr also nicht.

Also ist an Wettbewerb weder im ÖPNV zu denken noch beim schienengebundenen Personennahverkehr (SPNV), also etwa den Regionalbahnen. Auch dieser Verkehr wird vom Aufgabenträger angeordnet und bezahlt, also im wahrsten Sinne „bestellt“.

Können der Staat und seine zuständigen Behörden das alles überhaupt überblicken? Jedenfalls wird viel Geld hineingesteckt. Das Land Berlin pumpt Milliardenbeträge in den öffentlichen Verkehr, um ihn beaufsichtigen und gestalten zu können. Allein im Jahr 2001 flossen in die BVG 525 Millionen Euro für Betrieb und Investitionen. Für die Bestellung von Verkehrsleistungen des Regionalverkehrs und der S-Bahn wurden weitere 230 Millionen Euro ausgegeben worden. Der Kostendeckungsgrad der BVG liegt – bei Einrechnung aller öffentlichen Transferleistungen – deutlich unter 30 Prozent, die Fahrgeldeinnahmen finanzieren also nur ein Drittel der Gesamtkosten. Den 750 Millionen Euro aus öffentlicher Hand für den öffentlichen Verkehr stehen für den Bau und den Erhalt von Berliner Straßen im gleichen Jahr noch nicht einmal 160 Millionen Euro gegenüber. Für den Fahrradverkehr hatte das Land im Jahr 2001 gerade mal 1,5 Millionen Euro übrig.

Und das Ergebnis? Während bei der S-Bahn die Fahrgastzahlen aufgrund des erheblich ausgeweiteten Netzes auch tatsächlich von 232 Millionen im Jahre 1993 auf etwas mehr als 300 Millionen Beförderungen im Jahre 2001 gesteigert werden konnten, nahm im gleichen Zeitraum die Zahl der BVG-Fahrgäste von über 1 Milliarde auf unter 800 Millionen deutlich ab. Im gleichen Zeitraum stieg die Zahl der zugelassenen Pkws pro 1000 Einwohner von 315 auf 327.

Das Ergebnis der Berliner Nahverkehrspolitik der letzten 10 Jahre kann daher als nicht anders als katastrophal bezeichnet werden: Trotz eines ungeheueren Aufwands an Investitionen, Betriebszuschüssen und Ausgleichszahlungen bleiben die Fahrgäste weg!

Das ist auch kein Wunder. Denn in Berlin kontrolliert sich das Land in dieser Aufgabe selbst. Während die BVG dem Wirtschafts- und Finanzsenator unterstellt ist, bestimmt die Verkehrssenatorin die Tarifspielregeln für die BVG. Das Prinzip heißt: Linke Tasche, rechte Tasche. Weil aber mittlerweile der Senat die Übersicht verloren und auch die EU in Brüssel ein kritisches Auge auf Berlin geworfen hat, soll künftig noch eine weitere Regieeinheit eingeführt werden. Dabei gibt es ja noch den Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg (VBB), von dem allerdings keiner ahnt, welche Aufgaben hier verrichtet werden.

Die Lösung dieser Misere kann daher nicht sein, noch mehr Geld zu investieren, sondern das ganze System der Leistungserbringung im öffentlichen Verkehr muss wieder vom Kopf auf die Füße gestellt werden.

Das Berliner Debakel im ÖPNV zeigt aus Sicht des Kunden wie auch aus der des Steuerzahlers: Der Senat ist kein Unternehmer. Der Senat ist und bleibt eine Behörde. Sein Dienstrecht sieht keine Dynamik vor, der BAT oder die Beamtenbesoldung kennen keine Zielvereinbarung. Unternehmerisches Denken ist praktisch verboten.

Aus „linker Sicht“ müssen wir uns alle von dem Denkansatz verabschieden, dass der Staat durch kommunale Eigenproduktion „gerechtere“ und „qualitativ bessere“ Produkte erzeugen könnte. Dies klappt weder beim Wohnungsbau noch bei Strom, Telekommunikation oder Wasser und auch nicht im Nahverkehr.

Dabei hat der Senat mit der BVG und der S-Bahn Berlin GmbH zwei bekannte Unternehmen im Säckel. Der Schlüssel zur Zukunft des öffentlichen Verkehrs liegt somit in der Vergangenheit: im Rückbau von der Behörde zum Unternehmen. Die Gehälter der BVG-Direktoren sind daher auch gar nicht zu hoch: Die Direktoren müssen nur endlich auch als Unternehmer handeln und für ihr Tun auch verantwortlich gemacht werden. Die Eckpunkte einer solchen Reform sind rasch genannt: Der Senat setzt zur Erbringung von ÖPNV und SPNV Unternehmen ein, die auch als solch arbeiten können. Der Senat sollte sich dabei auf ordnungspolitische Aufgaben beschränken.

Die Unternehmen – es könnten dann auch die BVG und die S-Bahn sein – arbeiten im eigenen Namen und auf eigene Rechnung und können ihre Produkte völlig frei gestalten; Preise und Linienführung wären allein dem unternehmerischen Kalkül überlassen. Da aber kein Unternehmen der Welt teure U-Bahnen oder Straßenbahnschienen profitabel bauen und betreiben kann, gehen diese direkt ins Landesvermögen über und werden in Berlin von einer landeseigenen Infrastrukturgesellschaft bewirtschaft. Die Unternehmen können diese pachten, das heißt, sie mieten die Infrastruktur und zahlen hierfür einen symbolischen Preis. Zur Infrastruktur zählt aber nicht nur der Schienenstrang, sondern auch der darauf fahrende Wagenpark, das rollende Material.

Von diesen Kosten weitgehend befreit, bieten sich den Unternehmern Perspektiven. Der gepachtete Betrieb wird natürlich nicht mehr subventioniert, sondern muss sich durch die eigenen Einnahmen selbst tragen. Der Senat kann nun durch die Zahl sowie die Laufzeit der Pachtverträge für die praktisch kostenneutral zur Verfügung gestellte Infrastruktur die Entwicklung des ÖPNV und des SPNV steuern – ohne dass er selbst unternehmerisch handeln müsste. Man kann die Vergabe der Pacht zudem an weitere Auflagen binden, beispielsweise daran, das bestimmte Gruppen der Gesellschaft einen Anspruch auf Preisnachlass haben. In diesem Modell kann der Senat selbstverständlich nicht auch noch Eigentümer des Pächters sein. Teile der BVG und der S-Bahn würden sicherlich in die Infrastrukturgesellschaft überführt werden. Die verbleibenden Unternehmensteile könnten dann gut verkauft oder sogar am Kapitalmarkt platziert werden. Die BVG wäre wieder eine AG.

Diese Lösung ist natürlich nicht mit den existierenden Gesetzen kompatibel. Den politischen Willen vorausgesetzt, könnte man allerdings über Experimentierklauseln starten und dann die Gesetze entsprechend anpassen. Denn Gesetze vorzubereiten, das ist ja die eigentliche Aufgabe des Senats – und Berlin wäre dann mal wieder der Nabel der Welt.

Der Autor ist Mobilitätsforscher am Wissenschaftszentrum Berlin