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Archiv-Artikel

Impressionen eines Besuchers

Fotoszenen vom Winterfeldtplatz, der auch heute noch ein Schnittpunkt vieler Gruppen ist

VON DIRK KNIPPHALS

Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein verlief genau hier die Grenze zwischen Stadt und Land. Die Schöneberger Bauern verkauften auf diesem Platz direkt an der Berliner Stadtmauer ihr Gemüse. Es ist nicht schlecht, um solche historischen Zusammenhänge zu wissen. Denn in den 60er-, 70er- und dann noch einmal mit neuem Furor in den 80er-Jahren wurden rund um den Winterfeldtplatz die Traditionen des großstädtischen und bürgerlichen Lebens neu erfunden; die Strukturen der Alternativkultur verdichteten sich zu einem tragfähigen Netz, die befriedete Hausbesetzerszene forcierte ihre bewahrenden Aspekte und renovierte den Wohnraum. Und dass all diese zusammengebastelten Lebensansätze inzwischen so urban und alteingesessen wirken, hat etwas damit zu tun, dass sie auf alten Plänen und Gegebenheiten aufsitzen.

Das gute Leben lässt sich selbstverständlicher neu entdecken, wenn Markt und kleine Geschäfte gleichsam immer schon die Infrastruktur dafür bereitstellten. Der Ansatz eines selbstbestimmten Lebens wird leichter vertreten, wenn urbane Liberalität sich in jedem Stein eingenistet hat – hier, am Schnittpunkt zwischen bildungsbürgerlichen Straßenzügen (Bayerisches Viertel), Hotspots von Boheme und Homo-Szene seit der Kaiserzeit (Motzstraße) und proletarischer Renitenz (Rote Insel). Benn hat hier Gedichte geschrieben. Emil und seine Detektive sind hier herumgetobt. Christopher Isherwood hat hier gelebt. Insofern war der Winterfeldtplatz keineswegs zufällig einer der Orte, an dem von linksalternativen Kadern das Prinzip der lebensweltlichen Bastelei durchgesetzt wurde – bunte Viertel statt der Gesamtentwürfe aus einem Guss vom neuen Leben und neuen Menschen; und jeder Kiezbewohner kann sich seit langem schon, ohne (wie im Prenzlauer Berg) ein großes Ding draus zu machen, seine Individualität zusammenbasteln aus dem Angebot von Hinterhofwerkstatt bis Buddhismus, von Therapieszene bis kleiner Weinladen.

Der 1966 geborene Fotograf Stefan Maria Rother hat nun das heutige Lebensgefühl am Winterfeldtplatz in Fotos einzufangen versucht. Er hat die Verkäufer vom Markt vor ihre Stände gestellt. Er hat die Besitzer kleiner Geschäfte rund um den Platz in die Kamera lächeln lassen. Lustigerweise sieht Schöneberg-Nord bei ihm dabei über weite Strecken so dörflich aus, wie es bis ins 19. Jahrhundert hinein war. Der Platz ist in seinem gerade erschienenen Bildband „Winterfeldtplatz“ nicht die Bühne großstädtischer Lebensentwürfe, sondern er fällt gleichsam aus dem urbanen Zusammenhang heraus – so als ob sich in diesen Bildern wie von selbst ein längerfristiges historisches Gedächtnis von der Situation an der Stadtmauer durchsetzt.

Rother hat keineswegs die großstädtische Realität dieses Platzes eingefangen; mit seinem nachmittäglichen Selbstdarstellungstheater von Inlineskatern und engagierten Kinderwagenschiebern, mit seinem schrägen Nebeneinander von Katholizismus (katholische Schule), funktionierender Multikulturalität und Neobürgerlichkeit. Er hat – obwohl er laut Verlagsangabe hier im Kiez wohnen soll – den touristischen Blick bebildert, die Impressionen eines Besuchers, der am Samstagausflug den bekannten Markt auf sich wirken lassen möchte. Das ist schade, aber wohl auch symptomatisch. Viertel mit hoher Lebensqualität stellt man sich oft idyllisch und dörflich vor. Dabei ist das Angebot an möglichen Lebensentwürfen hier am Platz großstädtisch wie nur irgendetwas.

Stefan Maria Rother: „Winterfeldtplatz“. Berlin Story Verlag, Berlin 2008, 80 Seiten, 16,80 Euro