: Belgien als Sehnsuchtsort
Die Niederlande und Flandern sind zwei Länder, die durch eine gemeinsame Sprache getrennt sind. Ein prominent besetztes Festival in Berlin präsentiert nun die Literaturszene beider Regionen
VON GERRIT BARTELS
Der eine Schriftsteller heißt Geert van Istendael, ist Belgier und muss immer mal wieder erklären, warum er Niederländisch spricht und nicht Flämisch. Er sagt dann: „Die Sprache der Flamen ist Niederländisch.“ Und: „Unsere Muttersprache ist nicht die Sprache unserer Mutter. Das liegt an der eigentümlichen Geschichte meines Landes, des Königreichs Belgien.“ Und er erinnert sich, gerade in jungen Jahren viel Wert darauf gelegt zu haben, Niederländisch als Hochsprache in all ihren Feinheiten zu können und dialektfrei zu sprechen: „Ich wollte nicht, dass meine Sprache die Spuren der alten Unterdrückung durch das Französische trug.“
Der andere Schriftsteller heißt Benno Barnard, ist Niederländer, lebt in Antwerpen, fühlt sich als Belgier und wird immer mal wieder von Niederländern gefragt, warum er Flame geworden sei. Barnard antwortet dann: „Gott hat aus mir einen Schriftsteller gemacht und der Teufel einen Niederländer“, erntet Kopfschütteln oder wird gar als Vaterlandsverräter beschimpft. Auf sein „Belgiertum“ und seinen „Ehrenbelgier“-Status aber lässt er nichts kommen. Auch Belgien kann ein Sehnsuchtsort sein: „Das Belgische an einem Belgier“, so Barnard, „ist eine Frage von Kultur, Lebensart, Freundschaft, Urbanität, Niederländisch und Französisch – und für diese Kultur habe ich mich entschieden.“
Ein niederländisch sprechender belgischer Schriftsteller und ein emigrierter niederländischer Schriftsteller mit ausgeprägtem Hang zum Belgiertum – van Istendael und Barnard dokumentieren mit ihren Liebeserklärungen an Belgien in der neuen, der flämischen Literatur gewidmeten Ausgabe des Schreibheftes, wie komplex die Beziehungen zwischen Belgiern und Niederländern sind. Nicht zuletzt, weil die niederländische Sprache in zwei Staaten gesprochen wird: von 15 Millionen Menschen in den Niederlanden und von 6 Millionen in Flandern, dem flämischen Teil Belgiens, dem im Süden das französischsprachige Wallonien gegenüber liegt.
Sowenig sich aber laut van Istendael die Niederländer dafür interessieren, „was die dort in ihrem finsteren Belgien so alles daherreden“ – und das trotz des 1980 zwischen Belgien und den Niederlanden abgeschlossenen Sprachunionsvertrags –, so lückenhaft ist das Wissen hierzulande über die Geschichte der sprachlichen und literarischen Verschränkung beider Länder, so sehr wird dieses überlagert vom belgischen Kinderschänderskandal oder der Ermordung Pim Fortuyns.
„Kennen Sie Ihre Nachbarn?“ heißt deshalb provokativ und wohl eher rhetorisch gefragt ein hochkarätiges Festival in Berlin, das eine Woche lang Literatur aus den Niederlanden und Flandern präsentiert. Der Termin mag ungünstig sein, stehen im Moment im Zuge der EU-Erweiterung doch eher die Nachbarn im Osten im Mittelpunkt des Interesses. Er ist jedoch gut abgestimmt mit einer Vielzahl neuerer Veröffentlichungen niederländischsprachiger Literatur durch deutsche Verlage. Zumal es elf Jahre nach dem flämisch-niederländischen Schwerpunkt bei der Frankfurter Buchmesse durchaus wieder an der Zeit ist, den Blick intensiver auf die Literatur der Nachbarn im Westen zu lenken. Damals begründete der Buchmessenschwerpunkt hierzulande einen Boom um die großen Niederländer Harry Mulisch und Cees Noteboom sowie den Belgier Hugo Claus. Zuweilen hieß es gar, aus den Niederlanden und Flandern stamme Europas lebendigste Literatur.
Mulisch, Noteboom und der ewige Literaturnobelpreiskandidat Claus haben inzwischen zwar Klassikerstatus, und auch Autorinnen und Autoren wie Margriet de Moor, Leon de Winter, A. F. Th. van der Heijden und Maarten’t Hart haben ihr Publikum in Deutschland. Das aber war es dann schon – trotz einer regen, wenngleich ähnlich wie in Deutschland gut subventionierten Szenerie. Man könnte also fragen: Kennen Sie Erwin Mortier? Tom Lanoye? Anna Enquist? Die neue Generation niederländisch schreibender Autoren?
Nun lässt sich bei solch einem Literaturfestival, zu dem fast 20 Autoren kommen, kein Themenschwerpunkt ausmachen und nach der Lektüre einiger Romane auch keine speziell niederländisch-flämischen Trends. Man hat es mehr mit einer Reihe von mitunter manisch produktiven Solitären zu tun: Allen voran A. F. Th. van der Heijden, der mit dem Buch „Die zahnlose Zeit“ ein großes literarisches Paralleluniversum geschaffen hat, einen Totalroman der niederländischen 70er- und 80er-Jahre, und inzwischen an einem zweiten Romanzyklus arbeitet.
Ebenfalls überbordernd aktiv ist der 1971 geborene, in New York lebende Arnon Grünberg, der seit seinem Debüt „Blaue Montage“ Anfang der Neunzigerjahre Jahr für Jahr einen, manchmal gar zwei lesenswerte, zuweilen aufgeregt-geschwätzige Romane über Verlierer und Außenseiter veröffentlicht. Darüber hinaus schreibt er unter dem Pseudonym Marek van der Jagt Krimis und nicht zuletzt unermüdlich Essays, Kolumnen und Kritiken.
Hat Grünberg in Diogenes einen kongenialen Verlag gefunden, so ist der vielseitige belgische Schriftsteller Tom Lanoye in Deutschland nahezu unbekannt. „Lanoye spielt nicht nur mit den Genres und ihren Grenzen“, so der Literaturkritiker Bart Vanegeren, „er bombardiert jedes Genre auch noch mit einer Vielzahl unterschiedlicher Stile und persifliert so einen Großteil der traditionellen literarischen Gepflogenheiten.“ Lanoyes einziger, 1993 ins Deutsche übersetzte Erfolgsroman „Pappschachteln“ (Claassen) ist so nicht nur „die Geschichte einer banalen Liebe“, wie es der erste Satz des Buches verkündet, sondern ein scheinbar in vielerlei Bruchstücke zerfallender Roman über das Schreiben, mit Bekenntnischarakter, aber so doppelbödig, dass zwischen die banale Liebe und die Liebe zur Literatur kein Blatt mehr passt.
Weniger kunstvoll und enigmatisch, dafür umso offensiver beuten die niederländische Schriftstellerin Connie Palmen und ihr Landsmann P. F. Thomése ihr Privatleben für ihre Bücher aus und leisten dabei aufopferungsvolle Trauerarbeit. Nachdem Palmen 1999 mit „I. M. Ischa Meijer“ ihre vierjährige Beziehung zu dem Journalisten Ischa Meijer, die durch dessen Herztod abrupt endete, in allen Facetten beschrieben hatte, legte sie vor kurzem mit „Ganz der Ihre“ (Diogenes) nach. In diesem Roman lässt sie fünf Frauen ihre Beziehung zu einem ebenfalls Ischa Meijer nachempfundenen Don Juan namens Salomon Schwarz Revue passieren.
Palmen nennt das Buch in Interviews Meijers „Schattenbuch“, erklärt es gar zu einem irgendwie feministischen Roman: „Keine Frau, die eine Familie gründen will, verliebt sich in einen Don Juan.“ Aber bei allen von Palmen geschickt platzierten psychologischen, religiösen und philosophischen Einsprengseln geht einem dieser Schwarz im Verlauf des Romans ziemlich auf die Nerven – was für ein Hecht! Was für eine tragische Figur!
Ungleich berührender ist P. F. Thoméses Buch „Schattenkind“ (Berlin Verlag), das um die Geburt und den Tod seiner wenige Wochen alten Tochter kreist. In einer spröden Sprache beschreibt Thomése das Leid der Eltern am Krankenbett und danach, aber auch die Empfindungen bei der Geburt: „Endlich hielt ich die Welt in Händen.“ Das schmale Büchlein ist der Versuch eines Autors, mit Hilfe der Sprache zurück ins Leben zu finden: „Ohne mich könnte alles es selbst sein, bräuchte sich nicht mühsam in eine Sprache umzuwandeln, in der es sich nicht angemessen auszudrücken weiß.“
Die leisen, erinnerungsgesättigten Romane „Marcel“ und „Meine zweite Haut“ (beide: Suhrkamp) des 1965 geborenen flämischen Autors Erwin Mortier dagegen sind mehr der Poesie als dem Leben verpflichtet. Zudem verweisen sie auf zwei bevorzugte Sujets niederländisch-flämischer Autoren von Claus über van der Heijden bis zu Tomas Lieske: zum einen auf das dunkle Kapitel der Kollaboration mit den Deutschen im Zweiten Weltkrieg, das etwa Hugo Claus in „Der Kummer von Flandern“ einst in den Mittelpunkt seines Romans gestellt hat. Mortier zeichnet in „Marcel“ nun die Ausläufer dieser deutsch-belgischen Zusammenarbeit in der Nachkriegszeit nach, indem er seinen Marcel sich regelmäßig mit einem gleichaltrigen Wehrmachtsdevotionaliensammler namens Wieland treffen lässt.
Zum anderen handeln Mortiers Romane von den Schwierigkeiten, in beengt kleinbürgerlichen Verhältnissen aufzuwachsen, diese hinter sich zu lassen oder gar, wie in „Meine zweite Haut“, ein homosexuelles Coming-out zu haben: „Der Tag wird kommen“, sagt die Hauptfigur Anton am Ende über ihren Vater, „da werde ich ihm Dinge sagen müssen, die ihn an der Oberfläche scheinbar nicht tiefer verletzen werden als ein Rasiermesser, doch Wunden verursachen, die weit länger pochen.“
In so einem Fall ist es auch gleich, ob man Niederländisch, Französisch oder einen üblen flämischen Dialekt spricht, ob man Wahlbelgier, eingefleischter Amsterdamer oder Provinzdeutscher ist – diese Erfahrung machen zu müssen ist universell.
„Göttliche Monster – eine Literatur aus Belgien“. Schreibheft 62, Rigodon Verlag, 10,50 €; „Kennen Sie Ihre Nachbarn?“, vom 12. bis 18. Mai in Berlin, Termine unter www.nlpv.nl/berlin