: Mörder und Räuber
Müttern auszureden, dass Berlin gefährlich ist, lässt einen manchmal zu Märchen greifen. Ein Tatsachenbericht
Immer wenn meine Mutter mich anruft, sagt sie, dass Berlin ein Sündenpfuhl sei. Dann zählt sie mir alle gefährlichen Orte auf, nennt Verbrecher namentlich und hat einen Überblick über die Mordstatistik. Ich widerspreche ihr jedes Mal, sage ihr, wie umgänglich die Berliner sind, und erzähle ihr von Begegnungen, die niemals stattgefunden haben, nur um meine These zu stützen. Mein leidenschaftliches Eintreten für die Hauptstadt führt meist dazu, dass meine Mutter irgendwann so von den positiven Eigenschaften der Berliner überzeugt ist, dass sie ankündigt, mich zu besuchen, was ich ihr bei unserem nächsten Telefonat wieder ausreden muss.
Vor ein paar Tagen geriet mein Berlinbild aber kurz ins Wanken. Erst begegnete ich vor dem „Brooklyn“ in der Oranienstraße einer jungen Frau, die sich, bevor sie den Stehimbiss betrat, bekreuzigte. Zunächst fühlte ich mich in meiner These von den guten Berlinern bestätigt, aber als wir beide vor der Theke standen, merkte ich, dass sie nervös mit den Augen zuckte und sich immer wieder umblickte. „Eine Fanta“, sagte sie. „Zum Mitnehmen?“, fragte das Mädchen hinter der Theke. „Nein“, sagte die Frau, „zum Hiertrinken.“ Und die Bedienung, als ob sie ahnte, was geschehen würde, sagte entgegen der üblichen Gepflogenheit, die Rechnung erst später zu begleichen: „Dann bekomme ich aber einen Euro.“ – „Ja, ja“, erwiderte die Frau, nahm die Dose und stellte sich nahe der Tür ans Fenster. Als ich meine Bestellung aufgab, verschwand sie, ohne zu zahlen.
Eine halbe Stunde später wühlte ich vorm Kaiser’s in der Barnimstraße in meiner Hosentasche nach einem Eurostück, als eine freundliche alte Dame, die schon neben dem Eingang gewartet zu haben schien, mit einem Einkaufswagen auf mich zurollte und fragte, ob ich einen Wagen brauche. Geld und Wagen wechselten den Besitzer, und ich hatte plötzlich das Gefühl, einen Fehler gemacht zu haben. „Was, wenn sich nun gar kein Euro, sondern ein Chip im Schaft befindet?“, dachte ich. Und wirklich: Als ich den Supermarkt verließ und meinen Wagen in einen anderen rammte, kam ein Markstück zum Vorschein. Ich wollte schon meine Mutter anrufen und ihr sagen, dass die Berliner hinterfotzig seien und ich nach dem Studium wieder aufs Land zöge. Aber auf dem Nachhauseweg passierte dann doch noch etwas, das mich wieder glauben ließ. Mit zwei Einkaufstüten in der Hand lief ich wie gewöhnlich bei Rot über die Greifswalder Straße. Ein silberfarbener VW-Polo schnitt mir den Weg ab, der Fahrer, ein Mann mit Schnauzer und Schlapphut, beugte sich über den Beifahrersitz, kurbelte das Fenster herunter und machte mich laut schreiend auf die Verkehrsregeln aufmerksam. „Daran sieht man“, sagte ich zu meiner Mutter am Telefon, „dass in Berlin, trotz gegenteiliger Behauptungen, immer noch alles in Ordnung ist.“ JAN BRANDT