: „Ist halbes Heimat“
Auch wenn es gestern nicht wie angesagt so richtig losging: Die Tage des Kessler-Blocks in Tenever sind gezählt. Gut so, sagen die meisten. Auch die, die dort lange gewohnt haben. Was kommt danach? Einen Aldi wünschen sich die Leute oder Parzellen oder noch besser: ein Ausbildungswerk von Daimler
Bremen taz ■ „Wie? Und das soll‘s jetzt gewesen sein?“ „Das war ja vielleicht ’ne peinliche Nummer!“ Enttäuschung macht sich breit auf dem Bürgersteig an der Neuwieder Straße in Tenever. Hundert, vielleicht hundertfünfzig Menschen säumen den Straßenrand und gucken mit langen Gesichtern an den Stockwerken des „Kessler-Blocks“ hinauf. Ganz oben baumelt eine dicke Kette am so genannten Langfront-Bagger – bestellt, um den rund 230 Wohnungen im Hochhausblock Ecke Neuwieder Straße/Otto-Brenner-Allee den Garaus zu machen. „Abriss“ hatten die Zeitungen angekündigt – stattdessen angelt ein verspielter Bausenator Jens Eckhoff (CDU) mit dem Bagger einen Sack voll Bauschutt aus dem achten Stock. Mehr als ein symbolischer Akt wird heute nicht gegeben.
„Das war zuletzt ein Rattenloch“
„Gott sei Dank“, so Vladimir G., 55 Jahre alt, der das Geschehen fachmännisch kommentiert. „Da könnte sonst was passieren. Der Bagger steht falsch, er wackelt sogar“, warnt er mit starkem russischen Akzent. Seit drei Jahren lebt er in Tenever, vorher lange Jahre in Mecklenburg-Vorpommern. Er hat sein Leben lang auf Baustellen gearbeitet. In Kasachstan, in Kirgisien und in Mecklenburg. In Bremen nicht mehr. Dass wenige Meter von ihm entfernt ein deutsches Pärchen den Niedergang Tenevers mit Leuten wie ihm in Verbindung bringt, hat er nicht gehört.
„Bis vor fünfzehn Jahren war das hier o.k.“, sagen zwei Mittsiebziger, die ihre Namen auf keinen Fall verraten wollen. Aber dann seien „die Ausländer und Aussiedler“ gekommen und hätten die großen Wohnungen bekommen. „Meine Tochter hat drei Kinder, die hat keine Wohnung gekriegt“, schimpft die Frau. Das Pärchen selbst wohnt nur ein paar hundert Meter weiter auf der anderen Seite der Otto-Brenner-Allee in Tenever-Zentrum. Wohnen da keine Ausländer? „Doch, ich hab‘ bei mir auf der Etage sieben Wohnungen“, sagt sie im Duktus einer Eigentümerin, „und wir sind da die einzigen Deutschen“. Der Rest: Türken. „Aber alle sehr nett und mit gut erzogenen Kindern. Die sind ja nicht alle gleich“.
Der Kessler-Block aber, ein schokoladenbrauner Wohnriese mit weißen Balkonen, das war ein Hort des Bösen, glaubt man den Kommentaren der Älteren. Die dunklen Ecken haben „alles, was kriminell ist“, angezogen, man habe sich nicht mehr auf die Straße getraut, ein „Rattenloch“ sei es zuletzt gewesen. Sechzig Prozent der Wohnungen standen am Ende leer.
Am Ende einer Vision. Der Kessler-Block ist benannt nach der Reform-Architektin Nina Kessler, die in den Siebzigern von einem Hochhaus träumte, ganz zugeschnitten auf die Bedürfnisse allein erziehender Mütter. Läden, Arzt-Praxen, Kindergärten gehörten mit dazu. Das Experiment sorgte bundesweit für Aufsehen, wurde aber bekanntlich wie das gesamte Modellbauvorhaben Tenever nie wirklich angenommen. Statt allein erziehender Mütter lebten dort – unter anderem – türkische Großfamilien. So wie die von Yalcin F. Mit seiner Frau und sieben Kindern hat der 34-Jährige im 9. Stock des Kessler-Blocks gewohnt. „Traurig“ findet er es, dass der nun dem Erdboden gleichgemacht wird. Obgleich er und seine Familie eine neue Wohnung in Tenever-Zentrum bekommen haben. Sogar eine von denen, die schon saniert ist.
Aus vollem Herzen: Reklame für Tenever
Nach und nach will die Osterholz-Tenever-Grundstücksgesellschaft (OTG), eine gemeinsame Projektgesellschaft des privaten Wohnungsunternehmens Gewoba und der stadteigenen Bremer Investitionsgesellschaft (BIG) die knapp 700 übrig gebliebenen Wohnungen bis 2008 modernisieren. Sanierung, Abriss, Wohnumfeldverbesserung – so lauten die drei Pfeiler des „Stadtumbau West“-Projektes, zu dem das Quartier im Bremer Osten als erstes westdeutsches auserkoren wurde. Tenever ist wieder Modellprojekt.
Auch Osman A., 42 Jahre alt, hat im Kessler-Block gewohnt. Erst im vierten, dann im achten Stock. Und jetzt wurde er „umgesiedelt“ in ein anderes Hochhaus. „Aber immer noch Neuwieder Straße. Seit 18 Jahren. Ist halbes Heimat“, sagt der Türke. Er macht aus vollem Herzen Reklame für Tenever: „Kindergarten zehn Minuten, Schule fünf Minuten. Ist hier sehr ruhig geworden in den letzten Jahren. Viele Möglichkeiten für große Familie.“
Heute kommt der Knabber-Bagger
Dass gestern nur der lange Arm des Baggers ein wenig ziellos durch die Luft wankte, lag laut Holger Bruns, dem Sprecher des Bausenators, an einem Missverständnis. Es seien noch Vorarbeiten nötig gewesen, von denen man nichts gewusst hätte. So zum Beispiel die Schadstoffbegehung, bei der noch einmal geprüft wurde, welche Teile sich für die Weiterverwendung zum Straßenbau eignen und welche nicht. Heute aber soll es definitiv losgehen. Der Bagger knabbert die Mauern von oben nach unten herunter. Entkernt ist das Gebäude bereits, im September soll vom Kessler-Block dann nur noch der Grund übrig sein, auf dem er gestanden hat. Unklar ist indes noch, was danach kommt. Diverse Grünplaner befinden sich derzeit im Wettstreit und suchen nach angemessenen – für die Grundstücksgesellschaft bezahlbaren – Lösungen. Unter den Teneveranern kursieren derweil Gerüchte und auch handfeste Wünsche: „Wir brauchen einen Aldi“, sagt eine Frau, und der Mann neben ihr: „Eine Markthalle für alle Nationalitäten“. „Daimler Chrysler soll hier sein Ausbildungszentrum machen“ sagt ein türkischer Sozialpädagoge dagegen. „Denn was wir hier wirklich brauchen, sind Arbeitsplätze.“
Elke Heyduck