Tanzen zwischen den Ruinen

In der Kaukausrepublik Tschetschenien herrscht seit Jahren Krieg. Um Kindern zu zeigen, dass es dennoch Harmonie gibt,hat ein Choreograf dort unter fast unmöglichen Umständen ein Kinderensemble initiiert. Nun tanzt die Gruppe in Berlin

von IGOR KARNAUKHOV

Es mag merkwürdig klingen, dennoch ist es eine Tatsache: „Daimohk“, ein tschetschenisches Kinderensemble, tanzt. Und das, obwohl in der halb zerstörten Kaukasusrepublik noch immer Krieg herrscht und sie von einem Frieden weit entfernt ist. Internationale Hilfsorganisationen berichten fast täglich von Menschenrechtsverletzungen, und allen Beteuerungen der russischen Regierung zum Trotz, die Lage unter Kontrolle zu haben, wurde erst kürzlich der moskautreue Präsident Achmad Kadyrow ermordet. Auch Entführungen von Russen und Ausländern durch tschetschenische Kriminelle sind an der Tagesordnung.

„Daimohk“ bedeutet übersetzt „Volk“ und wurde unter dieser Bezeichnung 1989 in Grozny gegründet. Mitte der 90er-Jahre übernahm der tschetschenische Tänzer und Choreograf Ramsan Achmadow die Leitung. Doch wegen des russischen Einmarsches im Dezember 1994, mit dem ein zweijähriger Krieg begann, musste das Ensemble seine Arbeit einstellen. Erst 1996, nach dem Friedensschluss, konnten Achmadow und seine Frau Aisa weitermachen – mit einer Gruppe von Kindern im Alter zwischen acht und 15 Jahren. „Ich wollte den Kindern zeigen, dass um sie herum nicht nur Aggressionen und Gewalt, sondern auch Schönheit und Harmonie existieren.“ Auf einige seiner neuen Schüler stieß Achmadow in Flüchtlingslagern außerhalb von Tschetschenien, vor allem im benachbarten Inguschetien.

Zuerst trainierte die Gruppe im Saal eines halb zerstörten Hauses in Grozny, den Achmadow, seine Verwandten und Freunde notdürftig wieder hergerichtet hatten. Als auch dieses Gebäude einem neuen russischen Bombenangriff zum Opfer fiel, zogen die Nachwuchstänzer in eine Schule, deren Gas- und Stromversorgung kurz zuvor wiederhergestellt worden war.

Unter welchen Bedingungen die jungen tschetschenischen Künstler leben und arbeiten, die mittlerweile auch mehrmals im Ausland aufgetreten sind, zeigt der Dokumentarfilm „Dances avec les ruines“ des französischen Regisseurs Milène Solat aus dem Jahre 2002. Heute, fünf Jahre nach Beginn des zweiten Tschetschenienkrieges, leben und tanzen sie immer noch in Ruinen, denn der Wiederaufbau Groznys kommt nur langsam voran. Die Kinder und Jugendlichen tanzen, wo es gerade geht: Bei Achmadow zu Hause, manchmal in der Turnhalle einer wieder aufgebauten Schule und im Sommer auch einfach auf der Straße. Der Alltag ist schwer. Trinkwasser wird jeden Tag aus Zisternen geholt und nach Hause getragen.

Doch die jungen Tänzer lieben ihre Heimat und würden sie nie gegen ein anderes Land eintauschen. „Die Tournee hat mir sehr gut gefallen“, teilt ein Zwölfjähriger in dem Film mit. „Doch hier ist es schön. Ich würde nie von zu Hause weggehen.“

Das, was die jugendlichen Tänzer darbieten, sind nicht ausschließlich Volkstänze des Nordkaukasus. Vielmehr handelt es sich um tschetschenische, traditionelle Tanzkunst, jedoch in einer speziellen Choreografie Achmadows. Denn für die tschetschenische Folklore sind Gruppentänze eher untypisch. Die traditionelle Art ist der Paartanz: Mann und Frau. Mit seiner besonderen Choreografie, die neben rein tänzerischen auch auf effektvolle Momente setzt, will Achmadow dem ausländischen Publikum die innere Welt seines Volkes zeigen, den Geist, den auch die heutigen widrigen Umstände nicht zu brechen vermögen und der sich nach Frieden sehnt.

Dank der Initiative der Deutsch-Kaukasischen Gesellschaft ist Daimohk mit ihrem Programm dieser Tage bereits zum dritten Mal zu Gast in Deutschland. Dabei möchten die jungen Tänzerinnen wieder vor allem eine Botschaft an den Mann und die Frau bringen: Dass es in Tschetschenien nicht nur Krieg und Elend, sondern auch eine Zivilgesellschaft gibt – mit talentierten Kindern und genau solchen Lehrern.

Das Kindertanzensemble Daimohk tritt am Sonntag, 13. Juni, 19 Uhr im Urania-Haus auf. Eintritt 10, ermäßigt 5 Euro