bücher aus den charts : Der 12. Brunetti
Es klingt vielversprechend, was die Klappentextdichter von Diogenes dem neuen Brunetti-Roman von Donna Leon mit auf den Erfolgsweg gegeben haben: Leon ergründe hier „die verschwiegenen Kanäle zwischen militärischer und politischer Macht“. Man könnte gar denken, in diesem Buch liege Brisanz, es habe aktuelle Bezüge und sei deshalb praktisch mit Erscheinen Anfang Mai auf Platz eins der Belletristik-Charts gegangen, wo es sich seitdem stoisch hält.
Doch der Fall liegt einfacher. „Verschwiegene Kanäle“ ist Leons zwölfter Brunetti-Roman – da kommt es, wie bei allen Serienkommissaren, auf den Inhalt nicht so an, da wiegen viel schwerer Faktoren wie Verlässlichkeit, Vertrautheit (sowie in diesem Fall der stets pittoreske Schauplatz Venedig). Bloß keine Überraschungen. Bei Leon heißt das: Viel Weiß und viel Schwarz. Hier ein kleiner Kommissar mit aufgeräumter Psyche und intakter Familie, ein Opernfan und passionierter Leser von Militärhistorie. Das Gute eben. Und dort die höhere italienische Gesellschaft, die sich mit ihren Korruptions- und Giftmüllskandalen, ihren Verfilzungen, Geldschiebereien oder Kinderschändungen in einem bedauernswerten Zustand befindet. Das Böse.
Klar also, dass im neusten Brunetti-Roman der junge Ernesto Moro, der in den Waschräumen der Militärakademie San Martino erhängt aufgefunden wird, nicht einfach Selbstmord begangen hat und auch nicht einfach nur Opfer eines missgünstigen Mitschülers ist. Nein, er wurde stellvertretend umgebracht. Sein Vater, ein Arzt, war kurze Zeit ein korrekter, unerschrockener, Skandale aufdeckender Parlamentsabgeordneter, sah sich aber aus unerfindlichen Gründen gezwungen, seinen Sitz niederzulegen.
All das entwickelt Leon gemächlich und bieder, von Tempo, einem verzwickten Fall oder gar stilistischer Brillanz keine Spur. Wichtiger bei den Brunettis aber ist sowieso die Wiederkehr des immer Gleichen, auch des immer gleichen Personals: Brunettis trutschig-feministische Ehefrau Paola mit ihren Kochkünsten; seine Kinder Rafi und Chiara, die ein bisschen alternativ denken und darin von ihren Eltern unterstützt werden: Rafi soll nach der Schule lieber durch die Welt trampen als Soldat werden, sagt Paola einmal; dann Signorina Elettra und der Ispettore Vianello, Brunettis treue und rechtschaffene Helfer; und schließlich sein Vorgesetzter Patta, ein Gockel und Karrierist, gewissermaßen das Einfallstor zur bösen Welt der Mächtigen.
Solcherart eingelullt und mit dem Blick in den kriminalistischen Setzbaukasten von Donna Leon ausgestattet, schaukelt man sich mäßig interessiert durch den Moro-Fall. Man wandert mit Brunetti durch das schöne Venedig, leidet ein bisschen mit den Eltern, die ihr Kind verloren haben, und bekommt wohlfeile Gesellschaftskritik frei Haus. Unangenehm nur, wenn diese dann ins Law-and-Order-hafte kippt. So ist einmal verschwommen die Rede von illegalen Einwanderern, die sich für ihre Aufenthaltsgenehmigung und Arbeitserlaubnis die laxe italienische Bürokratie zunutze machen, dann aber in anderen europäischen Ländern arbeiten, was wiederum zu Unstimmigkeiten zwischen Italien und seinen Nachbarn führt. Unter dieser „verfehlten Politik“ litten nun, so Leon, die Venezianer in Form zunehmender Taschen- und Ladendiebstähle sowie Wohnungseinbrüche. Da fragt man sich nur noch, wie die illegalen und mit ihren italienischen Papieren in ganz Europa arbeitenden Einwanderer auch noch in Venedig für einen Anstieg der Kleinkriminalität sorgen können.
Wichtig für den Moro-Fall ist das nicht – der wird geklärt, ohne dass die Gerechtigkeit siegt. Das soll souverän skeptisch und realistisch wirken, wird aber so dick aufgetragen, dass es schon wieder verdächtig ist. GERRIT BARTELS
Donna Leon: „Verschwiegene Kanäle“. Aus dem Amerikanischen von Christa E. Seibicke. Diogenes Verlag, Zürich 2004, 332 Seiten, 19,90 Euro