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Archiv-Artikel

Mit dem Ameisenbär auf Käferjagd

Inox Kapell weiß alles über die Punkte der Marienkäfer, die Argentinische Ameise oder den Schneckenfresser. Schließlich fühlt er sich oft selbst wie ein außerirdisches Insekt. Sein entomologisches Wissen gibt er bei Exkursionen ins Krabbelreich weiter

von JANA SITTNICK

Es regnet. Es ist Samstagnachmittag. Man könnte zu Hause bleiben und tschechische Märchenfilme gucken. Oder „Biene Maja“, das würde thematisch sogar passen. Doch Programm ist Programm, und das sieht einen Insektenrundgang vor. Der Regen nieselt ja nur fein. Könnte sein, dass man gar nicht richtig nass wird. Wir wollten am Wochenende etwas Ungewöhnliches erleben. Deshalb haben wir uns für eine Käferexkursion in Kreuzberg angemeldet. Kunststadtführung mit Performance-Einlagen, Extremsportfest und Nacktbaden haben wir schon mitgemacht, da kann uns keiner was. Die großen Paraden und Umzüge sind auch vorbei. Also – Käfer.

Am Treffpunkt Katzbachstraße nimmt uns Inox Kapell in Empfang, Exkursionsleiter, Künstler und Insektenexperte. Der junge Mann bietet seit dem Frühjahr Käferexkursionen an, die Wissenschaft und Entertainment verbinden. Bei ihm erfährt der interessierte Laie etwas über das Leben, das Vorkommen und das Verhalten bestimmter Insektenarten und hört rätselhafte Geschichten wie diese:

In den Fünfzigerjahren des vorigen Jahrhunderts soll die Argentinische Ameise nach Portugal eingeschleppt worden sein und flugs die ganze Küste mit ihrer Markierung eingenommen haben. Das zeigte sich daran, dass die ansässigen Ameisenarten, unter ihnen durchaus kriegerische Stämme, die körpereigenen Duftstoffe des Neulings übernommen haben, und das, obwohl die Argentinische Ameise mit einer Größe von drei Millimetern eher schmächtig ist.

Warum das passiert ist, kann auch Kapell nicht erklären. Was er ganz sicher weiß, ist, dass die Menschen von den Ameisen lernen können: „Die sollten sich mal zusammensetzen, wenn es um die Konzeption von Städten geht.“

Der Exkursionsleiter trägt an diesem Julisamstag einen weißen Kescher zu blauen Schlaghosen, einen Hut und zwei beeindruckende Bartlocken. Er freut sich, dass trotz Nieselregens sechs Leute gekommen sind, um mit ihm Käfer zu entdecken. In den nahe gelegenen Viktoriapark geht er nicht, sagt er, sondern „auf die Brache hinter Aldi“. Dort gebe es „dynamischen Wildwuchs“ und viele verschiedene Insekten, man wisse nie, was als Nächstes vorbeikommt. Der Stadtpark hingegen biete kein natürliches Gleichgewicht. Das sei doch nicht spannend. Die junge Mutti mit Kind guckt ein wenig irritiert.

Wir machen uns also auf zur Brache, folgen dem Experten auf Schleichwegen, überqueren einen verwaisten Parkplatz hinter der Katzbachstraße, klettern eine Böschung hinauf und steigen über tote Bahngleise. Vor uns eröffnet sich eine „Wildwuchs“-Idylle, mit Birken- und Kastanienbäumen, Feldblumen, Schafgarbe und kniehohen Gräsern. Eine riesige Brache, fünfhundert mal zweihundert Meter, stillgelegtes Reichsbahngelände. Hier ist die Stadt nicht mehr zu spüren. Die Sechsergruppe tapferer Großstädter staunt.

Kapell wirbelt seinen Kescher ein paar Mal durch die Luft. Einen kleinen schwarzen Käfer mit gelben Ovalen auf dem Rücken hat er gefangen. Der sieht nicht aus wie ein Marienkäfer, jedenfalls nicht wie einer, den wir kennen. Kapell schlägt sein Käferbestimmungsbuch auf und tippt triumphierend mit dem Finger auf die Marienkäfer-Farbtafel. Da ist unser Modell abgebildet. „Es ist ein weit verbreiteter Irrtum, dass Marienkäfer nur rot sind und schwarze Punkte tragen“, sagt der Experte, „und die Anzahl der Punkte auf dem Rücken hat nichts mit dem Alter des Käfers zu tun. Wenn der Käfer ein Käfer ist, dann wächst er nicht mehr.“ Schließlich hatte er genug Zeit, sich vom Ei über die Larve und Puppe bis zum Krabbeltier zu entwickeln.

Inox Kapell beschäftigt sich mit Insekten, seit er denken kann. Er fand die winzigen Tierchen schon als Kind faszinierend. Daheim, im ostfriesischen Leer, nannte man ihn deshalb „Ameisenbär“. Oft ist er durch Wald und Wiesen gestreift, zuerst mit dem Vater, der ihm die Natur erklärte, später dann allein. „Als Dreijähriger bin ich mit dem Insekteneimer herumgelaufen“, sagt der heute 38-Jährige lachend.

Sein entomologisches Wissen hat sich der gelernte Kaufmann im Laufe der Zeit selbst angeeignet. Wenn es nichts zu tun gab, hat er Fachbücher gelesen und Käfer gezeichnet. Nach Indien ist er gereist und in die USA, um das Verhalten bestimmter Prachtkäfer zu erforschen. Heute setzt sich der Autodidakt hin und wieder in den Hörsaal einer Universität, wenn ein Professor der Biologie Vorträge über staatenbildende Wespen hält. Manchmal geht Kapell auch mit anderen Insektenkundlern auf die Wiese.

Entomologen gelten in der Regel als verschrobene weltferne Wissenschaftler, die sich oft sogar äußerlich ihrem Forschungsgegenstand, Käfern und Co., angleichen. Kapell meint lachend, er kenne auch solche Leute. Mit den Wissenschaftlern habe er allerdings nur sporadischen Kontakt. „Eigentlich bin ich nicht in der Entomologenszene.“

Eigenwillig ist Kapell aber auch, auf eine ganz besondere Art. Er behauptet, sich ganz oft wie ein Insekt zu fühlen, ja selbst ein Insekt zu sein. Ein außerirdisches Insekt. Er meint es ernst. In der Insektensache spüre er seit den Achtzigerjahren eine „ganz starke Berufung“. Der in Wiesbaden und Berlin lebende Künstler betreibt ein eigenes Plattenlabel und den „Inoxzuhausemuseumsclub“, er finanziert sich mit Auftritten als Elektronikmusiker und DJ. Die Käferexkursionen finden einmal im Monat im kleinen Rahmen statt, fünf bis zehn Leute kommen im Durchschnitt zusammen, der Eintritt für die dreistündigen Touren liegt bei zehn Euro, für Kinder bei sechs.

Bei Regen sieht man andere Insekten als bei Sonnenschein, erfahren wir auf der Brache, zum Beispiel Schwarze Wegameisen, Wanzen und den Schneckenfresser, einen Raubkäfer. Ameisen sehen wir an diesem Tag viele, die sonnenverwöhnten Schwelfliegen, Hummeln, Blattkäfer und Zikaden leider nicht.

Als Kapell, einer Wolfsspinne auf der Spur, ein gammliges Teppichstück vom Erdboden hebt, staunt er selbst. Da wimmeln gelbe Ernteameisen und rote Knotenameisen dicht beieinander. „Jetzt hab ich die beiden Nester aufgemacht, das ist nicht gut“, sagt Kapell erschrocken. Die Ameisen achten nämlich auf strikte Reviertrennung. Weil sie sich nicht leiden können.

Käferexkursion mit Inox Kapell, Sonntag, 15 Uhr, Treff: Katzbachstraße 5, Kreuzberg; anschließend „Wespenclub – insektoider Chillout“. Infos unter: (01 79) 2 18 20 29