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Archiv-Artikel

Die Peripherie des Terrors

Man spürt die Wut und hört den Schrei nach Rache: Der Fotojournalist Li Zhensheng war die „Kamerafaust“ der chinesischen Kulturrevolution, seine Bilder werfen für ehemalige Maoisten peinigende Fragen auf. Zurzeit sind sie bei C/O Berlin zu sehen

Wir waren stumpf gegen die Evidenz der Bilder

VON CHRISTIAN SEMLER

Keine Fahnen, Plaketten, Mao-Bibeln, kein anheimelnder Polit-Klimbim. Die Ausstellung ausgewählter Fotos aus dem Archiv des chinesischen Fotojournalisten Li Zhensheng, die die zehn Jahre der chinesischer Kulturrevolution 1966–76 dokumentiert, spielt in einem strengen, fast asketischen Rahmen. Auf zwei Stockwerken des Berliner C/O, einer auf den Zusammenhang von Fotografie, Design und Architektur spezialisierten Einrichtung, werden Lis Fotos, schwarz eingerahmt, unverglast und in nahezu identischen Formaten präsentiert. Kleine Tafeln (in englischer Sprache) zu Füßen des Betrachters beschreiben Zeit, Ort und handelnde Personen. Sparsam eingesetzte Schrifttafeln informieren über die politischen Grunddaten im „roten Jahrzehnt“. Insgesamt eine Inszenierung, die dem Schrecken des Themas adäquat ist.

Li Zhensheng war Beobachter wie Teilnehmer der Kulturrevolution in der Mandschurei, also der chinesischen Provinz Heilongjiang. Als „roter Nachrichtensoldat“ hatte er Zugang zu allen Veranstaltungen und Aktionen, nicht nur zu den „offiziellen“ Massenversammlungen. Er belieferte seine Tageszeitung mit den obligaten Bildern der Begeisterung wie des Zorns. Hier funktionierte er als „Kamerafaust“. Aber gleichzeitig war er auch „Kameraauge“, ein präziser, unbestechlicher, distanzierter Beobachter.

Li war einer der ganz wenigen Fotografen, der seine Negative vollständig aufbewahrt hat, auch dann noch, als die Entdeckung dieser Materialien für ihn gravierende Folgen gehabt hätte. Er versteckte sie zuerst unter den Dielen seiner Wohnung und sandte sie später jahrelang Negativ um Negativ zu Freunden in die Vereinigten Staaten. Dort wurden sie viel später unter seiner Mitwirkung für Ausstellungen und für eine Buchpublikation aufbereitet.

Lis Fotoarchiv stellt aus vier Gründen eine einzigartige Quelle dar. Es ist lückenlos, was die Chronologie der Ereignisse anlangt. Es behandelt Ereignisse in der „Provinz“, fernab von den kuturrevolutionären Zentren Peking und Schanghai, also einer Zone, über die wir oft nur aus zweiter Hand unterrichtet sind. Man denke nur an die einzigartigen Fotos, die Kämpfe der verschiedenen kulturrevolutionären Fraktionen untereinander dokumentieren. Es enthält drittens eine große Zahl von Fotos, die von den Behörden immer strikt indiziert gewesen waren. Viertens und wichtigstens haben sämtliche Fotos eine präzise Legende. Erst letzterer Umstand gibt den Opfern der Kulturrevolution (und manchmal auch den Tätern) ein Gesicht und eine nachvollziehbare Geschichte.

Für den Betrachter erschreckend, fast unerträglich sind die Fotosequenzen, die zeigen, wie den „kapitalistischen Weg“ gehende Funktionäre, wie angebliche Großbauern und Kapitalisten, wie Vertreter der „stinkenden Nr. 9“ (also der Intellektuellen innerhalb der Negativskala) in öffentlichen Ritualen gedemütigt werden, wie man sie zur bußfertigen, gebückten Haltung zwang, sie verprügelte, oft genug körperlich verletzte, in einer Reihe von Fällen auch umbrachte. Das ist mehr als ein Spiel mit festgelegten Rollen, eine an- und abstellbare Inszenierung. Wir spüren auf den Fotos Wut, den Schrei nach Rache.

Hier liegen die Grenzen des interpretativen Rahmens der Ausstellung. Nirgendwo erfahren wir, dass für die Halbwüchsigen und Studenten die Kulturrevolution ein brachialer Ausweg aus Enge und Gängelung war, aus dem Zwang zur Anpassung und aus vorgestanzten Lebensläufen. Führerkult und Massenhysterie werden zu Recht konstatiert, aber kein Sterbenswort über die Utopie eines befreiten, kollektiven Lebens, für dessen Garant die Rotgardisten (zu Unrecht) Mao gehalten haben. So wird dem Besucher der Ausstellung in einer Ex-post-Erklärung alles zum Beleg des Zwangs, wo doch gleichzeitig Freiwilligkeit, ja Enthusiasmus am Werk gewesen war.

Wer zu Zeiten der Kulturrevolution der maoistischen Linken in Deutschland angehört hat (wie der Rezensent), für den werfen die Fotos Lis auch ein Menschenalter nach ihrem Entstehen eine peinigende Frage auf. Wieso konnten wir die in den Fotos so offensichtlichen terroristischen Rituale und den ebenso offensichtlichen Konformismus der revolutionären Aktionen umdeuten in den Sieg von Masseninitiative und Massendemokratie? Wieso waren wir, die moralisch Empfindsamen, so stumpf gegenüber der Evidenz der Bilder?

Man könnte natürlich antworten: weil uns diese Bilder unbekannt waren; aber wer die zeitgenössischen chinesischen Publikationen in deutscher Sprache durchblättert, wird leicht erkennen, dass das nicht einmal die halbe Wahrheit ist. Die radikale Linke in Deutschland glaubte in erster Linie an die Evidenz des Wortes, der Rede, mehr noch an das, was zwischen Buchdeckeln zu finden war. Wir misstrauten gerade dem Augenschein, der scheinhaften Evidenz des Kapitalismus, unser marginalisiertes Dasein führte uns dazu, stets hinter den bloßen Tatsachen nach dem Wesen zu fahnden. Wie wir auch in dem aufkeimenden Widerstand bei uns die kommunistische Zielsetzung aufleuchten sahen. Die Kulturrevolution war für uns der Durchbruch zum jetzt möglichen Kommunismus: Aufhebung der Arbeitsteilung, Vereinigung von Kopf- und Handarbeit, Tilgung der Trennung von Stadt und Land, der patriarchalischen Bestimmung der Geschlechter.Wer so stark hofft, büßt an Sehvermögen ein.

Aber liebten wir nicht die Fotos vom kämpfenden Vietcong, von den B-52-Bombern, die, eine Rauchfahne nach sich ziehend, vom Himmel stürzten? Selbstverständlich, aber das waren bildliche Pathosformeln, die gleichzeitig eine Wirklichkeit ausdrückten. Der Krieg der Amerikaner in Vietnam wurde in einer fortlaufenden Bildsequenz erlebt und nicht mittels Studiums der Werke des allseits verehrten „roten Großvaters“ Ho Chi Minh. Die Bilder aus Vietnam vermittelten eine immer gleiche, uns emotional und in unserer Lage unmittelbar berührende Lektion: Nicht Waffen, Menschen entscheiden. Und: Ein kleines Volk, das für eine gerechte Sache kämpft, kann ein großes besiegen, wenn es sich im Volkskrieg vereint. Diese Botschaft rief nach bildhaftem Ausdruck, nach unmittelbarer Identifikation mit dem Kämpfenden. Eine solche Unmittelbarkeit hat es im Verhältnis zu den Rotgardisten nie gegeben. Sie blieben Objekt einer utopischen Konstruktion.

Zu Recht ruft die Berliner Ausstellung der Fotos von Li die Opfer der Kulturrevolution in Erinnerung, zu Recht polemisiert der Ausstellungstext gegen eine romantisierende Verklärung. Was aber, in China und anderswo, die Rebellion antrieb, was ihr Rechtfertigung und Glanz verlieh, bleibt im Dunkeln.

China Change, bis 19. 9. 04., C/O Berlin, Linienstr. 144, Mitte