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Archiv-Artikel

lost in lusitanien Das Scheitern der Stars am System

MATTI LIESKE bedauert, dass die Ideologen des Sowjetfußballs nicht mehr erleben, wie sich ihre Ideen europaweit durchsetzen

Arsène Wenger galt lange Jahre als der Prototyp des jungen Wilden in der Gilde der Fußballtrainer. Diese Position haben ihm jetzt Leute wie Mourinho (Chelsea), Deschamps (Monaco), Benítez (Liverpool), Ancelotti (Milan) oder Koeman (Ajax) abgejagt, jene Generation, die gestern noch selber in kurzen Hosen über den Platz hechelte und heute mit ihren Vereinen Europas Fußball prägt. Wenger ist inzwischen 54, fast schon so etwas wie der große weise Mahner, und langsam in dem Alter, in dem man Nationaltrainer wird. Noch hat der Franzose offenbar keine Ambitionen in dieser Hinsicht, zumal er sich in der Vergangenheit stets überaus despektierlich über das Niveau des Fußballs geäußert hatte, den die Nationalteams praktizieren. Er betrachte viel lieber Klubspiele der besten Mannschaften in den Ligen und in der Champions League, hatte er immer betont, mittlerweile sieht er das nicht mehr so eng und verfolgte auch die Europameisterschaft mit großem Interesse. Das ist kein Wunder, schließlich spielte seine halbe Arsenal-Mannschaft bei Frankreich mit, die andere Hälfte bei England oder Schweden (Fredrik Ljungberg). Nur der junge Spanier Reyes durfte nicht nach Portugal (selbst schuld, Señor Sáez), und Dennis Bergkamp hat seine Oranje-Zeiten hinter sich.

Dennoch ist der Vergleich der EM mit dem Vereinsfußball lohnend. Kein Spiel würde seine Mannschaft in der Bundesliga verlieren, hatte der Lette Maris Verpakovskis behauptet. Das ist blühender Unsinn, auch wenn die Bundesliga in der europäischen Rangliste zügig nach unten rutscht und die mäßigen Europacupergebnisse der letzten Jahre keineswegs Ausrutscher sind, sondern den Trend bestätigen. Da die individuelle Klasse einzelner Spieler im aktuellen Konzeptfußball nicht mehr so zum Tragen kommt wie früher, ist es für gut organisierte, läuferisch starke Teams aus vermeintlich schwächeren Ligen zwar eher möglich, sich zu behaupten, vor allem, wenn es, wie im Europacup, nur auf wenige Spiele ankommt. Über die gesamte Saison setzen sich dann aber doch in der Regel die teuren Teams mit den Stars durch. Auch Werder Bremen wurde nicht mit lauter Nobodys Meister.

Das fußballerische Niveau ist im Vereinsfußball der sechs großen, spielerimportierenden Ligen (Spanien, England, Italien, Frankreich, Deutschland, Türkei) nach wie vor höher als auf Länderebene, nicht nur wegen der vielen außereuropäischen Profis, welche die Klubteams bereichern, sondern auch, weil die Trainer dort viel mehr Zeit haben, die Systeme einzuüben, deren perfektes Funktionieren das entscheidende Element im modernen Kollektivfußball ist. Außerdem geht es bei den Nationalmannschaften in der Regel viel lockerer zu als bei den Topvereinen, wo viel Geld auf dem Spiel steht und jede Kleinigkeit genau geregelt ist. Die Trainerveteranen der EM schauen den Spielern noch in die Augen, um zu sehen, ob sie fit sind, und lassen nicht dauernd medizinische Testreihen durchführen. Während ein Mourinho oder Benítez für jeden Bereich wissenschaftlich geschulte Fachleute beschäftigt, sind die Profis bei der Ländermannschaft für ihre Ernährung, Fitness, psychische Befindlichkeit meist selbst zuständig. Das fördert die Entspannung, möglicherweise aber auch den Schlendrian. Fußballerisch am einfachsten haben es die Teams, die genau das System spielen, welches die Spieler von ihren Vereinen kennen, die Portugiesen zum Beispiel, seit Trainer Scolari sich durchgerungen hat, praktisch den Champions-League-Sieger FC Porto plus Figo und Ronaldo auflaufen zu lassen, aber auch die taktisch gut geschulten Niederländer oder Tschechen. Das taktische Wirrwarr dagegen, das zum Beispiel Jacques Santini bei den Franzosen oder Giovanni Trapattoni bei Italien angerichtet haben, führte fast zwangsläufig zum Scheitern.

Im Wesentlichen bestätigt die EM das, was zuletzt auch den Vereinsfußball charakterisierte: den Aufstieg von Mannschaften mit guter Organisation, den Absturz der alten Glitzerteams, das Scheitern der Stars. Nicht die großen Lichter der Zunft von den reichen Klubs wie Zidane, Henry, Beckham, Owen, Totti, Del Piero, Nesta, Vieri, Raúl, Ballack prägten das Turnier, sondern Leute wie Baros, Reservist beim FC Liverpool, Charisteas, Reservist bei Werder Bremen, Cristiano Ronaldo, oft Reservist bei Manchester United, Gravesen vom bescheidenen FC Everton, Rooney vom selben Klub, Zagorakis von AEK Athen, Tomasson, Reservist beim AC Mailand, Ljungberg, nicht immer erste Wahl bei Arsenal, Niko Kovac, Reservist bei Hertha BSC, und nicht zuletzt Maris Verpakovskis von Dynamo Kiew. Lediglich Nedved, van Nistelrooy, Rosicky und Figo konnten den Vorschusslorbeeren gerecht werden. Den Absturz der Cracks auf Müdigkeit infolge zu vieler Spiele in den starken Ligen Europas zurückzuführen, greift zu kurz, denn außer den Griechen und den jungen Holländern spielen fast alle Akteure der im EM-Halbfinale vertretenen Teams in den großen Ligen inklusive Champions League. Viel eher trifft die These, dass der Star heute nur in einem funktionierenden Team tatsächlich Star sein kann. Schade, dass dies die Ideologen des sowjetischen Kollektivfußballs der 60er-Jahre nicht mehr erleben dürfen.

Arsène Wenger ist im Übrigen nicht nur Kritiker des Fußballs, sondern betätigt sich auch gern als Prophet. Für die EM hat er eine sehr exakte Vorhersage getroffen. Danach sollte Frankreich die Holländer im Halbfinale mit 2:1 schlagen und die Tschechen hätten England, zuvor 2:1-Sieger gegen Portugal (Gruß an Urs Meier), im Elfmeterschießen bezwungen. Das Finale hätten dann die Franzosen nach einem 1:1 wiederum per Strafstoß gewonnen. Aber, hatte Wenger vorsorglich betont: „Es kann auch alles ganz anders kommen.“