: Ewige Opfer, ewige Täter
Im Irak verfestigt sich jeden Tag mehr der Zivilisationsschock – bei den frustrierten Irakern wie bei den Amerikanern. Verlierer des Krieges sind alle, außer den Terroristen
Der Prozess gegen Saddam – endlich eine gute Nachricht. Sollte man wenigstens glauben. Die Geschichte des Irak wird als eine Kette von Beweismitteln gegen Saddam erzählt werden. Alle Welt wird einverstanden sein. Denn dass der Diktator der Verbrechen schuldig ist, derer man ihn anklagt, wird für kaum jemanden zweifelhaft sein.
Aber wer ist dieser Mensch, über den man zu Gericht sitzen wird? Ein Tyrann, sicher. Aber auch ein ehemaliger zuverlässiger Verbündeter des Westens im Krieg gegen den islamischen Iran – und ein herausragender Führer des arabischen Nationalismus. Eines der grundlegenden Probleme der Region besteht darin, dass die gleichen Informationen eine völlig andere Bedeutung annehmen, je nachdem, in welchem Vorstellungssystem sie auftauchen. Es handelt sich nicht nur um Politik. Die Worte scheinen das Gleiche ausdrücken zu wollen, und dennoch: Die kollektiven Glaubenssätze, die sich jeweils dem Bewusstsein aufprägen, erweisen sich als stärker.
Die meisten Hunde in der arabischen Welt streunen herrenlos als Rudel umher, bellen die Passanten an und erhalten als Gegenleistung Fußtritte. Wie ein Hund behandelt zu werden, vollständig nackt an der Leine gehalten zu werden von einem uniformierten amerikanischen Mädchen mit jungenhaftem Gebaren, das ist für die Araber ein Albtraum. Und die Fotos, die diese Schande zeigen, sind um den Erdball gegangen. Ihre Wirkung ist umso schmerzvoller, als man in ihnen fälschlicherweise eine Wahrheit erblickt – dass dies der Ort, besser: der Nicht-Ort sein soll, der den Arabern auf der Welt zukommt.
Abu Ghraib hat die Araber in ihrer paranoiden Wahrnehmung dieser Welt bestärkt. Seit Jahrzehnten sahen sie sich als die ewigen Opfer einer ungeheuerlichen, von den USA und Israel begangenen Ungerechtigkeit – die niemand wahrhaben will. Mit den Fotos ihrer Folter halten sie endlich den Beweis in den Händen, dass die Feindschaft, der sie ausgesetzt sind, nicht nur Wirklichkeit ist, sondern all ihre Vorstellungskraft übersteigt.
Dank der Fortführung des Systems gegenseitiger Spiegelung hat der Mittlere Orient die ewige Bewegung erfunden, den immer währenden Krieg. Alles geschieht so, als ob die drei Kontinente, wo sie zusammentreffen, in der Erdölregion, kraft eines tektonischen Drucks Konvulsionen ohne Ende ausgesetzt seien. Aber schließlich sind es Menschen, die Krieg führen. Die einen besetzen den Irak und stigmatisieren die neue, muslimische Achse des Bösen. Die anderen sind in einer Vision der Welt gefangen, innerhalb derer der christliche und jüdische Westen zum Alleinschuldigen aller Übel wird. Für viele Araber ist damit alles gesagt. „Die Amerikaner“ werden en bloc als arrogant und inhuman angesehen, unfähig, die Leiden anderer zu begreifen. Weil sie uns wie Hunde behandeln, weil wir nichts gelten auf der Welt, deshalb hat Bin Laden Recht.
Dass die Folterfotos ein Erdbeben in den USA ausgelöst haben, nimmt in dieser Rechnung nur einen marginalen Stellenwert ein. Lange Zeit vom Schock des 11. September gelähmt und von der ihm folgenden patriotischen Welle überwältigt, sind die Institutionen und Mechanismen der amerikanischen Demokratie jetzt wieder erwacht. Was die Presse anlangt, so stellt sie ihre eigene Berichterstattung infrage. Dies geschieht mit einem Freimut und einer Energie, die Europa praktisch nie gekannt hat (man weiß heute mehr über Abu Ghraib als über die Folter durch die französische Armee in Algerien).
Um zu begreifen, wie die Regierung Bush so schwerwiegend entgleisen konnte, kann man sich auf den Enthüllungsjournalisten Seymour Hersh beziehen. Im New Yorker beschreibt er die politischen Entscheidungen, die zum 11. September und zu Abu Ghraib geführt haben. Sobald die Zwillingstürme des World Trade Centers zusammenstürzten, entschieden Bush und Rumsfeld, dass man den Terroristen, die keinerlei Regeln respektierten, auf gleiche Weise entgegentreten müsse. Nach Hersh folgten aus dieser Entscheidung sämtliche späteren Irrtümer. Die Regeln des Kriegsvölkerrechts wurden daraufhin einer überholten Epoche, dem 20. Jahrhundert, zugeordnet. Ein ultrageheimes Programm des Pentagons schuf einen legalen Raum, innerhalb dessen den Akteuren eine quasi vollständige Straflosigkeit zugesichert wurde. Das Lager von Guantánamo wurde, diesem Programm folgend, zu einem rechtsfreien Raum. Und weil das Pentagon nichts von den Gründen des irakischen Widerstands verstanden hat, wurde offizell die Aufsicht über die Internierungszentren dem General Miller übertragen, bis dahin Kommandant des Guantánamo-Lagers.
Von Anfang an handelte es sich darum, die Gefangenen zu brechen. Die Bilder der sexuellen Demütigung sollten als Instrumente der Erpressung und der Rekrutierung dienen. Aber wie immer in den Zonen der Rechtlosigkeit und der garantierten Straflosigkeit ist die Maschine außer Kontrolle geraten. Ein Seufzer, ein Murmeln, ein Memo auf höchster politischer Ebene haben sich am untersten Ende der Befehlskette in einen verrückten pornografischen Ausbruch verwandelt, ganz so, als ob die Folterer in aller Unschuld den uneingestandenen Fantasmen ihrer Chefs Gestalt gegeben hätten.
Die Amerikaner können schließlich zu dem Ergebnis kommen, dass ihr Land einen historischen Fehler beging, als es den Irak besetzte. Aber gleichzeitig können sie darauf verweisen, dass die USA anschließend zu einer beispiellos vitalen demokratischen Reaktion fähig waren. Die Araber hingegen können eine solche Version der Geschichte nie akzeptieren. Sie fragen, was sich angesichts der Regeneration dieser „wunderbaren amerikanischen Demokratie“ für sie ändert.
Die Frustration der Araber hält den infernalischen Zyklus in Schwung. Ihre Gesellschaften leben in einem solchen Groll, sind so siedend erhitzt, dass Amerika und der Westen sich lieber auf die Despoten stützen, um sie zu kontrollieren, als auf die Demokratie. Dabei wäre die Demokratie genau das Mittel, das die arabischen Völker bräuchten, um die Gegenwart zu meistern. Sie bräuchten Offenheit, die Fähigkeit, sich selbst kritisch zu sehen. Aber niemand von außen kann ihnen zu diesen Fähigkeiten verhelfen. Unter dem Deckmantel der Machtübertragung an die neuen irakischen Autoritäten versucht Bush, seine Niederlage zu verbergen und heil aus dem Hornissennest herauszukommen. Auf den ersten Blick können die irakischen Aufständischen „Viktoria!“ schreien und sich als unbezwingbares Volk fühlen, das sich erfolgreich gegen die Okkupanten erhoben hat. Aber in Wirklichkeit verfestigt sich mit jedem Tag immer mehr der Zivilisationsschock in den Gemütern. Daran wird der Prozess gegen Saddam nichts ändern. Alle sind dabei, diesen Krieg, der so viele künftige Bedrohungen mit sich führt, zu verlieren – außer den islamischen Terroristen. SÉLIM NASSIB
Übersetzung aus dem Französischen von Christian Semler