Zwischen den Polen der Gedankenlosigkeit und des melodiösen Nebenbei: Tortoise in der Fabrik
: Reine Schönheit, unversehens

Lange nicht mehr war instrumentale Kunstmusik dem Rock so nahe wie heute. Neue Elektronische Musik, Dubreggae, Klangcollagen, Freejazz und Rock sind gleichwertige Bausteine einer neuen Musik ohne Sprache, die sich quer stellt zu allen Versuchen einer Kategorisierung. Gerade Chicago, wo die Plattenfirma Thrill Jockey ihren Sitz hat, ist mit dem Quintett Tortoise schon Mitte der neunziger Jahre zu einem Ort geworden, auf den eine geschmackssichere Hörerschaft wie gebannt blickte – auf der Suche nach etwas Neuem zwischen Popkultur und Avantgarde.

Die Gemeinsamkeit von Gruppen wie Trans Am, Gastr Del Sol, The Sea And Cake und eben Tortoise lag vor allem in der Absage an Rockmusik, wie man sie kannte: als Parole, als starres System aus Strophe und Refrain, Sänger, Botschaft und Publikum. In diesen Bands spielten Musiker, die keine Helden mehr sein mochten und die auf Gesang gerne verzichteten. Postrock war das Wort dafür – für die Rockmusik nach dem Ende der Rockmusik. Gegen die Organik des Songs setzten Tortoise die Ambivalenz von Sounds, die in ihrer Schönheit fast zu zerfließen drohten.

Die Musik von Tortoise ist bis heute die Schnittmenge der Plattensammlungen der beteiligten Musiker, nebenbei erzählt sie von den Büchern, die sie gelesen haben. Auch von ihren Lieblingsfilmen, vom süßen Pathos eines Italo-Westerns – musikalisch hinterlegt von Ennio Morricone, dem Tortoise mit „I set my face to the hillside“ auf ihrem Album „TNT“ gehuldigt haben.

Es ist vor allem eine elegante, filmmusikalische Anonymität, aus der sich die Musik von Tortoise entwickelt. Oft scheint es, als bauten Tortoise ihre komplexen Arrangements ganz bewusst zwischen den Polen der Gedankenlosigkeit und des melodiösen Nebenbei. So liegt es bei Tortoise näher, von Klangfarben und Stimmungen zu sprechen, als von den gespielten Noten selbst.

Manchmal wird die Musik von Tortoise dabei unversehens zu reiner Schönheit: wie auf vielen Stücken des fünften Albums „It‘s All Around You“, das in noch wärmeren Farben gemalt ist, als alles andere, was John McEntire, John Herndon, Doug McCombs, Dan Bitney und Jeff Parker je aufgenommen haben. Da jauchzen in manchen Momenten tausend Streicher, da jubilieren Chöre, da perlen Gitarrenakkorde und opulente Keyboard-Linien, ganz so, als wollten sich Tortoise ein neues Heim bauen – jenseits des Postrock, ganz weit oben am Pophimmel.

Marc Peschke

Donnerstag, 21 Uhr, Fabrik