: Berufstätige Mütter schaffen Chancen
Eine Tiefenanalyse von Pisa zeigt: Die klassische Familie bietet Kindern keine bessere Bildung. Hausfrauenkinder im Osten sind sogar im Nachteil
aus Berlin ANTONIA RÖTGER
In der Diskussion um Bildungsmisere und Erziehungsnotstand ist der Sündenbock schnell gefunden: Die Mütter sind schuld. Berufstätig, geschieden, allein erziehend oder mit neuem Partner – sie können ihrem verzogenen Einzelkind gar nicht die nötige Zeit widmen, heißt es. Mit diesen Annahmen geht die stillschweigende Übereinkunft einher, dass Frauen, die die klassische Rolle der Mutter zu Hause spielen – der Mann geht arbeiten, die Frau kümmert sich um die Familie –, ihren Kindern ein anregenderes Umfeld bieten könnten als Mütter, die arbeiten.
Diese Diagnose geht voll an der Realität vorbei. Es gibt, trotz akribischer Suche, keinerlei Hinweise darauf, dass die Jugendlichen aus vermeintlichen „Normalverhältnissen“ leistungsfähiger und erfolgreicher in der Schule sind als ihre Schulkameraden aus Haushalten Alleinerziehender oder Patchworkfamilien. Das berichten die Erziehungswissenschaftler Klaus-Jürgen Tillmann von der Universität Bielefeld und der Psychologe Ulrich Meier. Sie haben die Fragebögen zum sozialen und familiären Hintergrund der Pisa-Studie gründlich ausgewertet.
Die Bildungschancen der Kinder können von vielen Faktoren abhängen: vom sozialen Status und der Bildung der Eltern, von der Familienform, von den Anregungen aus dem Elternhaus, der Atmosphäre in der Familie und der Gesprächskultur. All diese Faktoren sind miteinander innig verknüpft. Es sind die Alleinerziehenden, die häufig schlechtere Karrieremöglichkeiten und damit auch weniger Einkommen und mehr Stressfaktoren in ihrem Leben haben.
Die Forscher Tillmann und Meier haben deswegen Jugendliche miteinander verglichen, die sich nur in einem Merkmal unterscheiden – ansonsten aber aus vergleichbaren Verhältnissen kommen. Dies erlaubt ihnen, den Einfluss der einzelnen Faktoren getrennt zu betrachten.
Denn es liegen Welten zwischen dem 15-jährigen Leo, Sohn einer erfolgreichen, geschiedenen Anwältin, sowie Kevin, Cindy und Marlon, die mit ihrer arbeitslosen Mutter in einer viel zu kleinen Wohnung leben. Leo hat nach den neuen Pisa-Ergebnissen genauso gute Chancen, das Abitur zu machen, wie ein Jugendlicher aus einer Normalfamilie der gleichen Gesellschaftsschicht – auch wenn seine Mutter weniger Zeit für ihn hat als eine Hausfrau.
Kevin dagegen, dessen Mutter dauernd zu Hause ist, hat ähnlich schlechte Karten wie die Kinder aus der Sozialwohnung nebenan, bei denen beide Eltern arbeitslos sind. Bildungsforscher Hans-Jürgen Tillmann meint, dass es die problematische Familiensituation an sich, die in der Öffentlichkeit so lang beschworen wurde, einfach nicht gebe. Wenn die Krisen überwunden sind, dann können sich Kinder von Alleinerziehenden genauso gut entwickeln – vorausgesetzt, die Restfamilie stürzt nicht in die Armut ab.
Auch ein weiteres Vorurteil hat die Untersuchung gekippt: Kinder von Hausfrauen haben keine besseren Bildungschancen als Kinder von berufstätigen Müttern. Es ist sogar umgekehrt, das ist die eigentliche Überraschung der Tiefenauswertung von Pisa. In den alten wie den neuen Bundesländern erreichen nämlich die Jugendlichen, deren Mütter berufstätig sind, eine höhere Punktzahl in Tests der Lesekompetenz.
Die Geschäftsführerin des deutschen Hausfrauenbundes, Gisela Gördeler, verweist darauf, dass dieses Ergebnis nicht mit dem „Berufsstand“ zusammenhänge. Sie meint: „Das hat wenig mit dem Hausfrauenstatus zu tun, sondern mit der Bildung der Mütter und wie sie ihre Kinder anregen.“ In den alten Bundesländern greift diese These, die nicht nur die Standesvertreterin der Hausfrauen zur Begründung heranzieht. Zwar sind Mütter mit höheren Bildungsabschlüsse eher berufstätig, aber es gibt auch Frauen mit Abitur, die Hausfrauen sind. Vergleicht man nun in den alten Bundesländern die Kinder von Müttern mit Hochschulreife miteinander, dann unterscheidet sich die Lesekompetenz der Kinder kaum. Die Kids berufstätiger Mütter erreichen dieselben Werte wie die Kinder von Hausfrauen mit Abitur. Am besten schneiden die Kinder von teilzeitberufstätigen Frauen ab. Sie praktizieren zugleich jenes Familien- und Berufsmodell, das im Westen der Republik das gesellschaftlich am ehesten akzeptierte ist.
In den neuen Bundesländern ist die Situation allerdings eine gänzlich andere. Dort sind die Unterschiede in der Lesekompetenz auch dann groß, wenn man die Kinder von Hausfrauen mit Abitur mit denen von berufstätigen Frauen mit Abitur vergleicht. In den neuen Bundesländern haben Kinder von Hausfrauen erschreckende Nachteile: Hier gehen Jugendliche (bei gleicher Lesekompetenz) mit etwa doppelt so großer Wahrscheinlichkeit auf ein Gymnasium, wenn die Mütter berufstätig sind. „Das ist dort eher eine Situation für Verliererinnen“, vermutet Tillmann.
Zwischen den Hausfrauen der alten und der neuen Bundesländern scheint es vor allem große Motivationsunterschiede zu geben; im früheren Westdeutschland sind es nicht nur die fehlenden Kinderbetreuungsmöglichkeiten, sondern auch die eigenen tief verwurzelten Vorstellungen, dass nur eine Vollzeitmutter ihre Kinder angemessen erziehen kann, die viele Frauen quer durch alle Schichten auf den Beruf verzichten lassen. Zwar sind inzwischen auch etwa 70 Prozent der Mütter von Kindern im Jugendalter berufstätig (meist in Teilzeit), doch ist der Hausfrauenberuf eine durchaus akzeptierte Option. Fast jede vierte Mutter der befragten Jugendlichen gab an, dass sie Hausfrau sei – und keine Arbeit suche. In den neuen Bundesländern gibt es dagegen keine solche Tradition, mehr als 80 Prozent der Mütter sind – meist Vollzeit – berufstätig, und nur ein Bruchteil der nicht erwerbstätigen Frauen bezeichnete sich als Hausfrau: „Eigentlich gibt es hier keine wirklich freiwilligen Hausfrauen, wie man sie aus dem westdeutschen Raum kennt, sondern die haben halt resigniert und geben ihre Hoffnungslosigkeit an die Kinder weiter“, sagt eine Psychologin einer Beratungsstelle in Berlin-Marzahn.
So überraschend die Resultate klingen, so sehr bekräftigen sie eine alte Weisheit: Was Hänschen von zu Haus nicht mitbringt – in der Schule lernt er’s nimmermehr. Oder: Bildungschancen sind in Deutschland erblich. Und das große Glück der Männer ist: Über ihren Einfluss auf das häusliche Bildungsverhalten wird kein Wort verloren – weil sie einfach nicht da sind.
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