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Archiv-Artikel

Massen und Meuten

Theorie und Technik: Adorno, der Teddyismus und die Geburt des Flash-Mobs

Mein schönstes adornitisches Erlebnis hatte ich vor vielen Jahren, als in Köln der Versuch unternommen wurde, der Love Parade etwas Ebenbürtiges entgegenzusetzen. Während sich auf dem Ring puschelige Plateauschuh-Pennäler und Stringtanga-Azubis um den Platz vor den RTL-Objektiven balgten, beschied mein holsteinischer Bekannter mit hochgezogenen Augenbrauen knapp: „Diese Generation braucht einen Krieg.“ Wir waren damals selbst noch in den Zwanzigern und hatten das fröhliche Herumspenglern zu unserer bevorzugten Form der Verständigung gemacht. Ein Spiel für Eingeweihte, man hätte auch „Teddyismus“ dazu sagen können.

Man zweitschönstes adornitisches Erlebnis hatte ich dann, als mir diese Frankfurt School Tapes in die Hände fielen, auf denen Radiogespräche des Meisters mit anderen Geistesgrößen versammelt sind. Das druckreife Parlando Adornos ist hinreißend, ebenso wie seine äußerst umständlichen Versuche, das, was er längst schon als gültige These für sich verbucht hat, um des schönen Scheins willen in verschwurbelte Pseudofragen zu kleiden. Insbesondere das Gespräch mit Elias Canetti über „Masse und Macht“ von 1962 wirkt wie eine One-Man-Show. Dass es nicht gänzlich scheitert, ist einzig dem Charme Canettis zu verdanken, der sich souverän ins zweite Glied begibt.

Die beiden unterhalten sich also leidlich über die Sozialpsychologie von Massen und den entsprechenden Überlegungen bei Gustave Le Bon und Siegmund Freud. Schnell können sie sich darauf einigen, dass es bestimmte qualitative Aspekte sind, die spontane oder angeleitete Menschenansammlungen zu einer höchst ambivalenten Angelegenheit machen. In Canettis anthropologischer Beschreibung des Vermehrungsdranges erkennt Adorno – etwas vorschnell – Belege für seine eigene Kapitalismuskritik und nimmt sofort die Gelegenheit wahr, ein Lob für beide Theorieansätze auszusprechen.

Man könnte, so sein Versuch einer Synthese, „wahrscheinlich gar nicht verstehen, dass überall auf der Erde (…) dieser Kultus der Produktion um der Produktion willen gedeiht, wenn nicht auch in der Subjektivität der Menschen, in ihrem Unbewussten, in ihrem ganz archaischen Erbe, das sie haben, etwas ungeheuer stark darauf anspräche“.

Adornos eigene Berührungsfurcht sollte, obwohl er fleißig nach erotischen Triebkräften zur Vereinigung suchte, nie gänzlich überwunden werden. Ängstlicher und zugleich glücklicher Solitär, der er war, hätten ihn die Festmassen unserer Tage vermutlich an vorzivilisatorische Meuten erinnert, wo ihm doch schon die „grölende Gefolgschaft des Elvis Presley“ ein Rückfall in die Barbarei dünkte. Dass der erste in den Annalen der Bundesrepublik verzeichnete Flash-Mob, das berühmte Busenattentat von Frankfurter Studentinnen, ausgerechnet auf Adorno zielte, war eine traurige Ironie der Geschichte. Er starb, wie viele meinen, nicht zuletzt deshalb aus Gram.

Sein kluger Biograf Lorenz Jäger, der die Episode nur flüchtig streift, nennt Adorno einen „Denker der Distanz“. Schon sein bisswütiges Pseudonym „Hektor Rottweiler“ beim berühmten Jazz-Aufsatz habe dafür gesprochen, dass er „in die Massenkultur von vorneherein wenig Hoffnung setzte“. Dabei standen die hundsgemeinsten Gruppenexerzitien im Kapitalismus erst noch bevor. JAN ENGELMANN

Theodor W. Adorno: „Gespräche mit Ernst Bloch, Max Horkheimer, Eugen Kogon, Elias Canetti, Lotte Lenya, Arnold Gehlen, Hans Mayer“. 6 Kassetten im Schuber, Carl-Auer-Systeme Verlag, Heidelberg 2003, 49 € Lorenz Jäger: „Adorno. Eine politische Biographie“. DVA, München 2003, 320 Seiten, 22,90 €