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Archiv-Artikel

„Die lateinamerikanische Linke ist gereift“, sagen Tabaré Vázquez und Danilo Astori

Der kommende uruguayische Präsident und sein Berater über eine Linke jenseits von Chávez und Castro

taz: Herr Vázquez, Sie haben gute Chancen, die anstehenden Präsidentschaftswahlen in Uruguay zu gewinnen. Auch in Brasilien, Argentinien, Chile, Venezuela waren zuletzt linke Kandidaten erfolgreich. Kann man von einer Renaissance der Linken in Lateinamerika sprechen?

Tabaré Vázquez: Ja. Das ist eine Reaktion der Gesellschaften auf die große Ungerechtigkeit in der Verteilung. Immer größere Teile der Gesellschaften sind verarmt und ausgeschlossen. Lateinamerika ist heute die Weltregion mit den größten sozialen Ungleichgewichten und schlechtesten Verteilung der Reichtümer überhaupt. Aus dieser Situation entsteht die Möglichkeit, dass – im Falle Uruguay zum ersten Mal in seiner Geschichte – linke Kräfte an die Regierung gelangen.

Gerade in Lateinamerika sind viele ambitionierte linke Regierungsprojekte in der Vergangenheit gescheitert.

Vázquez: Die ideologische Konzeption der Linken hat sich seit den 60er- oder 70er-Jahren verändert, weil die Realität sich verändert hat. Das alte Bild Uruguays von der Schweiz Südamerikas gibt es nicht mehr. Beeinflusst von internationalen Faktoren wie dem Kalten Krieg und dem Aufstieg der kubanischen Revolution und der Regierung Allende in Chile, hatte sich damals eine Linke gebildet, die ganz anderen ideologischen Vorstellungen folgte als heute. Die Linke hat sich für den Kampf innerhalb des demokratischen Systems geöffnet, und sie ist gereift.

Danilo Astori: Die Linke hat ihr Verständnis von der Demokratie völlig verändert – Demokratie gilt heute nicht mehr als ein Instrument unter mehreren, sondern als ein Ziel an sich. Die Linke versteht sich als Teil des Systems und versucht, es von innen zu verändern. Auch das Verständnis von der Rolle des Staates hat sich erneuert, insbesondere seine Wechselwirkung mit den Kräften des Marktes. Es geht darum, eine Transformation zu bewerkstelligen, die nicht den Kollaps des Wirtschaftslebens bedeutet. Das ist neu.

Das versucht Lula in Brasilien auch. Aber auch er sieht sich einer größer werdenden Opposition seiner Basis gegenüber.

Vázquez: Das ist ja auch alles nicht so einfach!

Kommt nicht jede hoffnungsvoll angetretene linke Regierung schnell an den Punkt, an dem sie ihrer Basis erklären muss, dass die Agrarreform nicht machbar, soziale Gerechtigkeit nicht finanzierbar ist?

Vázquez: Die Forderungen der Bevölkerung sind berechtigt – und daraus entstehen große Erwartungen an eine neue Regierung. Und die Erfüllung dieser Erwartung funktioniert nicht von heute auf morgen, weil eine verantwortungsbewusste Linke gar nicht die Instrumente dafür hat. Daher rührt die extreme Vorsicht der Linken in Uruguay, nicht mehr zu versprechen, als sie leisten kann.

Aber was können Sie denn leisten?

Vázquez: Einerseits gibt es einige soziale Bedürfnisse, denen wir sofort Rechnung tragen müssen, um Notsituationen zu begegnen. Zweitens aber müssen wir – mit aktiver Bürgerbeteiligung – mittel- und langfristige Projekte erarbeiten und in der Praxis umsetzen. Eines wäre ohne das andere nichts wert.

Astori: Eine linke Regierung muss per definitionem tief greifende Veränderungen einleiten – sonst ist sie keine linke Regierung. Die große Herausforderung ist es, dabei die politische Stabilität zu wahren.

In Deutschland haben wir eine Regierung der Sozialdemokratie, die mehr antisoziale Veränderungen durchführt als jede Regierung der Bundesrepublik zuvor und stets behauptet, es gebe dazu keine Alternative. Aber in Uruguay gibt es die?

Astori: Deutschland hat heute ein immenses Problem mit der sozialen Sicherung und dem Staatsdefizit. Aber aus ganz anderen Gründen als wir! Die deutsche Regierung betreibt Anpassungspolitik, die nicht gerade links ist, um die Etatprobleme in den Griff zu bekommen. Unsere Realität ist ganz anders!

Vázquez: Der Veränderungsprozess in Uruguay spielt innerhalb des Rahmens von Südamerika, und es müssen Veränderungen à la Uruguaya sein, sonst wird es nichts. Wir können das nicht machen wie die kubanische Revolution und auch nicht wie Chávez in Venezuela.

Was halten Sie von Hugo Chávez?

Vázquez: Chávez ist der gewählte Präsident Venezuelas, dessen Regierung man akzeptieren muss.

Erkennen Sie denn in Chávez einen Linken, einen Freund?

Astori: Ja. Er verwirklicht in Venezuela linke Ideen. Wie er das macht, ist eine andere Frage.

Vázquez: Er hat eine ausgesprochen solidarische Haltung den lateinamerikanischen Völkern gegenüber.

Chávez sieht sich unter einem gewaltigen Druck – sowohl von der eigenen Opposition als auch von Seiten der USA. Die USA gelten bei vielen als der historische Feind der lateinamerikanischen Linken. Sind sie das noch immer?

Vázquez: Südamerika kann viele Ereignisse im Verhältnis zu den USA nicht vergessen. Aber wir müssen trotzdem für ein anderes Verhältnis zu den USA arbeiten: Verständnis, Dialog, Respekt für die Souveränität der lateinamerikanischen Staaten. Das geht nicht, wenn man ständig das Hegemoniebestreben der großen Wirtschafts- und Militärmacht der USA spürt, die Lateinamerika als ihren Hinterhof definiert.

INTERVIEW: BERND PICKERT