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Sumpfkalk statt Riesterrente

Natur und Tradition sind die wichtigsten Ratgeber in Gert Ziesemanns Farbenlehre. Der geologisch-paläontologische Präparator stellt im niedersächsischen Sehlem Farben aus natürlichen und giftfreien Rohstoffen her. Die Werkstatt befindet sich in einem ehemaligen Sägewerk

„Schwalbenkot auf der Verpackung ist kein Reklamationsgrund“, steht auf dem Lieferschein für „Nassmuster Standölfarbe Ginstergelb“. In der nächsten Zeile wird das Kleingedruckte sogar politisch: „Wir fordern: Schwalbenkot statt ,blauer Engel‘ als EU-Norm.“ Das sei „schon ein bisschen trotzig“, sagt Gert Ziesemann schmunzelnd, „aber es soll ja auch Spaß machen.“

Der 54-Jährige aus Sehlem im Süden Niedersachsens kann sich solche Späße erlauben. Seine Firma „Kreidezeit“ verzeichnet mit Farben aus natürlichen und giftfreien Rohstoffen kontinuierlich wachsende Umsatzzahlen. Und der Hinweis auf etwaige Reklamationen ist nicht einmal ein Witz: Tatsächlich haben Dutzende von Rauchschwalben unter den Dächern der Versand- und Produktionshallen genistet.

Draußen an der Hauswand steht, von der Witterung angenagt, eine alte Maschine aus Holz. Sie stammt aus dem Jahr 1896 und ist ursprünglich genutzt worden, um Speiseeis herzustellen. Seit 16 Jahren, nachdem Gert Ziesemann einen Ziegenstall zu einer Farbenwerkstatt umfunktioniert hatte, mischt die Eismaschine jetzt Naturfarben.

Ziesemann ist gelernter geologisch-paläontologischer Präparator, hat als Müllwerker, Straßenkehrer, Fernfahrer, Maler und Bauleiter gearbeitet. Eine Farbenfabrik habe er nie geplant, erzählt er. Vielleicht, weil es für ihn „von Kindesbeinen an das Normalste der Welt“ war, Farben selbst anzumischen. Schon mit elf oder zwölf Jahren habe er zum ersten Mal ein Fachwerkhaus gestrichen und sich dafür wertvolle Tipps vom alten Malermeister Sehlems geholt.

Im Ziegenstall und auch noch im „Werk II“, einem Bullenstall in Harbarnsen, werde „unter Produktionsbedingungen wie im 16. Jahrhundert“ gearbeitet, sagt Ziesemann. Eines Tages sah er mit seinen Kindern die „Sendung mit der Maus“, und es sei viel Unsinn über Farben darin verbreitet worden. Ziesemann beschwerte sich bei den Machern und bot an, „mal etwas Vernünftiges“ über das Thema zu bringen. Die TV-Leute besuchten ihn: Drei Maus-Sendungen über die traditionelle Herstellung von Farben waren das Ergebnis.

„Danach kam wäschekorbweise Post. Das war wie im Comic.“ Das Interesse an Farben ohne Chemie und Gift war so groß, dass es dem Selfmade-Experten dämmerte: Er musste seine Arbeit auf eine professionelle Basis stellen. Es dauerte eine Weile, da die Banken sich weigerten, Kredite „für Quarkfarben und Bierlasuren“ zu vergeben. Doch mit einem bundesweiten Förderprogramm für „soziale Betriebe“ hat es vor zehn Jahren geklappt: „Kreidezeit“ wurde gegründet.

In einem ehemaligen Sägewerk bei Sehlem hat die Firma ihren Sitz. Längst geht es dem Mitglied des Hildesheimer Umweltzentrums nicht mehr darum, einfach Bio-Alternativen zu den Industriefarben herzustellen. Spezialität Ziesemanns und seiner 20 Mitarbeiter ist vielmehr das Neubeleben alter Arbeitstechniken. „Im Prinzip machen wir nichts anderes als das, was Maler und Drogisten seit Jahrhunderten getan haben. Und wir schmeißen die kritischen Stoffe wie Arsen, Blei oder Kadmium raus.“ Tadelakt etwa kommt aus Marrakesh und schafft marmorartige, wasserabweisende Kalk-Oberflächen. „Kreidezeit“ hat das Verfahren modifiziert und ist der einzige Anbieter in Deutschland.

Gert Ziesemann schwört auf traditionelle Farben. Auch, weil sie viel beständiger als Industriefarben seien. Das hat sich vor allem in der Denkmalpflege herumgesprochen, die zu seinen häufigsten Kunden zählt: Das Rathaus in Bremen, Bundespräsidialamt, Residenzschloss und Goethehaus in Weimar oder das Hundertwasser-Gymnasium in Wittenberg sind nur einige der Gebäude, die mit Naturfarben aus Sehlem restauriert wurden. In Seminaren sorgen die Mitarbeiter von „Kreidezeit“ dafür, dass Maler, Stuckateure, Lehmbauer und Künstler mit den neuen alten Techniken vertraut werden. Die Teilnehmer werden mit Kürbissuppe bewirtet, denn im firmeneigenen Kompost, auf dem auch die Farbreste der Produktion landen, gedeihen prächtige Hokaidos.

Für 2005 plant Gert Ziesemann den nächsten Coup – unter dem Motto „Sumpfkalk statt Riesterrente“. Sumpfkalk, ein Grundstoff für viele Farben, wird umso besser, je älter er ist. Der Geschäftsmann will nun einen halben Hektar Brachland drei Meter tief ausbaggern lassen, Sumpfkalk einfüllen und über Jahrzehnte reifen lassen. Von dem Erlös, hat Ziesemann errechnet, müsste für jeden seiner 20 Mitarbeiter eine monatliche Betriebsrente von 2000 Euro herausspringen. Und die Schwalben? Haben bei ihm sowieso lebenslanges Wohnrecht. Ralf Neite

Infos: www.kreidezeit.de

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