: Brumm, brumm, blanche
Kalkulierte Lässigkeit: Bei seinem Deutschland-Debüt bei den Francofolies in Berlin verbrummte Benjamin Biolay seine französischen Neo-Chansons bis zur Unkenntlichkeit
Ein wenig schadenfroh konnte man nach der Verärgerung schon sein. Mehr als zwei Stunden hatten die Zuschauer am Freitagabend im viel zu kleinen Plastikzelt im Hof der Berliner Kulturbrauerei ausgeharrt, hatten sich einen Sitz- oder Stehplatz erkämpft, die Enge und die schlechte Luft ertragen, auch die beiden zuvor auftretenden Acts des Themenabends „Chanson“ bei den Francofolies freundlich gefeiert. Und dann hieß es plötzlich: Alle raus! Damit Arte für die Aufzeichnung des Konzerts von Benjamin Biolay, dem Star des frankophonen Musikfests, seine Kamera aufbauen könne. Sitzplatz perdu. Keine schöne Geste für zahlende Gäste, die zu Recht nur schimpfend wichen.
Womöglich hatte Arte wirklich nicht rechtzeitig sein Equipment installiert. Denkbar aber auch, dass die Festivalleitung die Zugkraft von Biolay unterschätzt hatte und es nicht öffentlich eingestehen mochte. Alles Murren indes half nichts: Sämtliche Stühle und Bänke wurden von zurückgrantelnden Berliner Bühnenarbeitern entfernt. Pech vor allem für die überraschend zahlreichen Damen in dem Alter, das Französischlehrerinnen an deutschen Schulen nun einmal haben: Nach der Umbaupause war nicht mehr viel von ihnen zu sehen.
Und nun stand er endlich da oben, gekleidet in eine etwas zerschlissene Jeans und ein graues Military-Hemd, die Frisur genau die Spur zu weit herausgewachsen, um noch chic zu sein. Kalkulierte Lässigkeit. Lässig auch blies Benjamin Biolay den Rauch seiner Zigarette aus dem Mundwinkel, drehte den Kopf Richtung Mikro und machte: „Brumm, brumm, brumm, blanche / umm, umm, umm, onsch.“ Mehr war beim besten Willen nicht zu verstehen: ein Sound, der die besungenen „Nuits blanches“, die schlaflosen Nächte, durchaus plausibel erscheinen ließ. Hatte da wer vergessen, einen Soundcheck zu machen, oder war das Mikro womöglich nur für Arte richtig justiert? Oder – schlimmste Befürchtung – reicht Biolays Stimme live wirklich nur zu dumpfen, tiefen Tönen?
Dass Frankreichs herausragender Songschreiber, Arrangeur und Produzent als Sänger nicht gerade ein begnadeter Crooner ist, weiß jeder, der seine Alben kennt, und so sehr stört dieses kleine Manko nun auch wieder nicht. Doch dies hier ließ doch etwas aufkichern. Erst bei „Les cerfs volants“, zirka fünf Songs (und fünf Zigaretten) später, war das Mikro halbwegs ausgepegelt: zu spät für einige der Highlights aus Biolays reichem Repertoire.
Während der vorausgegangenen Auftritte von Corinne Douarre (frisch, aber seltsamerweise gleichzeitig ein bisschen altmodisch) und Fred (eine Art Junge mit der Gitarrre à la française) hatte man sich noch gefragt, mit welcher Besetzung Biolay wohl auftreten würde. Für seine vielen Streicher jedenfalls würde eindeutig kein Platz auf der kleinen Bühne sein.
An ihrer Stelle hatte er ein schon etwas angegrautes Rockquintett mitgebracht, das zwar weit klarer zu vernehmen war als der Meister selbst, aber mit Ausnahme des korpulenten Herrn am Synthesizer auch nicht wirklich begeistert bei der Sache war. Der ersehnte Funke, er sprang erst spät über. Und auch die Intimität, die Biolays Platten sonst so mühelos herstellen, hier kam sie nicht recht auf.
Im offensichtlichen Bemühen, einigen der eher ruhigen Chansons auf der Bühne zu mehr Dynamik zu verhelfen, gingen leider auch noch etliche Finessen unter: etwa die herrlichen Country-Loops einer Aufnahme von Jimmie Rodgers and the Carter Familiy aus dem Jahr 1928 beim Chanson „Little Darlin“, der auf Biolays aktueller Doppel-CD „Négatif“ enthalten ist.
Auch wenn das Publikum nach einer Stunde Programm und der fulminanten Zugabe „Los Angeles“ schließlich doch noch gewonnen schien, blieb ein zwiespältiger Eindruck. Womöglich hatte Benjamin Biolay ja nur beweisen wollen, dass er für den falschen Tag gebucht war und lieber tags darauf, am Samstag, beim Festivalschwerpunkt „Rock“ hatte auftreten wollen.
REINHARD KRAUSE