: „Hartz muss verschoben werden“, sagt Wolfgang Templin
Es gibt Alternativen zum Sozialabbau – und die gilt es jetzt zu prüfen. Von den Grünen ist allerdings nichts zu erwarten
taz: Vor 15 Jahren ging es bei den Montagsdemos um Demokratie. Heute geht es der Anti-Hartz-Bewegung um Wohlstand. Warum laufen Sie wieder mit?
Wolfgang Templin: Das ist mir zu idealisiert. „Visafrei bis Hawaii“ – auch damals ging es um eine bestimmte Form von Freiheit, die mit einem gewissen Wohlstand und mit Gerechtigkeit verknüpft war. Sicherlich erleichterten etliche bundesdeutsche Politiker den Glauben an die Illusion, als Deutscher in Dresden schnell so leben zu können wie ein Deutscher in Düsseldorf. Die Ostdeutschen wollten nicht das bundesdeutsche System, sondern den bundesdeutschen Sozialstaat. Bei den Protesten heute geht es um seine Grundsubstanz.
Der westdeutsche Sozialstaat funktionierte in der alten Bundesrepublik – heute nicht mehr. Sehen Sie die Finanzprobleme nicht?
Anders, als das immer suggeriert wird: Wir haben heute hintergründig kein fiskalisches Problem, sondern ein Verteilungsproblem. Natürlich sind die Sicherungssysteme, die wir uns leisten, eine Frage der Kosten. Richtig ist auch, dass wir schon unter Helmut Kohl über unsere Verhältnisse lebten. Die Frage ist doch aber: Mit welcher Politik begegne ich dem?
Was empfehlen Sie der Regierung Schröder?
Die rot-grüne Regierung hat genauso wie die schwarz-gelbe sich zunehmend Finanzierungsquellen abgeschnitten. Die Regierung Schröder wurde doch genau mit dieser Hoffnung vom Wähler ausgestattet: an Besitzstände der oberen Schicht ranzugehen. Hartz IV ist genau das Gegenteil.
Wenn Ihre These stimmt: Wieso begreift das – bilanziert man die Teilnehmerzahlen bei den Demos – nur der Osten?
Meine Wahrnehmung ist eine andere: Gerade weil die ostdeutsche Gesellschaft nicht in den westdeutschen Sozialstaat hineingeboren wurde, weiß sie die Errungenschaften des Sozialstaates sehr zu schätzen. Zudem sind im Osten von Hartz IV mehr Menschen betroffen. Wenn Sie das Ergebnis der SPD bei der Saar-Wahl ansehen, wird klar: Es geht um eine gesamtdeutsche Auseinandersetzung mit der Agenda 2010 – um den größten Eingriff in die Sozialsysteme seit Bismarck.
Der ostdeutsche Psychologe Hans-Joachim Maaz sagt: Es fällt den Ossis leichter zu protestieren als sich einzugestehen, seinerzeit zu naiv gewesen zu sein. Ist das so?
Ich glaube, das trifft nur sehr eingeschränkt zu. Ich habe ganz verschiedene Mentalitäten und Reaktionsweisen beobachtet. Maaz trifft allenfalls ein bestimmtes Segment des Protestes. Es gibt aber genauso Leute, die die bundesdeutsche Realität sehr genau analysiert haben und nicht aus Panik auf die Straße gehen. Jeder, der jetzt kommt und aufzählt, welche Ränder der Gesellschaft alle auf die Straßen gehen, den lade ich ein, genauer hinzusehen.
Schröder hat sich festgelegt. Was kann er denn noch tun?
Die erste Forderung, die von Minderheiten der Parteien, von unabhängigen Fachleuten und vom Protest geteilt wird: Ein solch gravierendes Reformwerk kann man nicht per Knopfdruck umsetzen. Es ist nicht alternativlos – so etwas gibt es gar nicht. Und wenn es Alternativen gibt, braucht man Zeit, diese zu prüfen. Deshalb muss der Termin für die Einführung verschoben werden. Zudem ist die Frage, wie die einzelnen Teile der Reform zueinander passen, nicht geklärt. Fördern und fordern, heißt es. Fürs Fordern gibt es genügend Instrumente, von denen man genau weiß, wie die wirken werden. Fürs Fördern fehlt das.
Lässt sich die Güte der Förderinstrumente nicht erst beurteilen, wenn sie arbeiten?
Das ist die Argumentationsweise der Macht. Die Realität ist doch: Werden die Instrumente jetzt in Kraft gesetzt, haben nur die die Möglichkeit, sie zu verändern, die sie in Kraft setzten. Die Regierung also. Die wird doch aber kaum eigene handwerkliche Fehler eingestehen und deshalb auch nichts ändern.
Die Grünen tragen jenen Teil in ihrem Namen, der mit der Tradition der Montagsdemos verknüpft ist: Bündnis 90. Was erwarten Sie von ihnen?
Ich gehe bewusst gegen die Bündnisgrünen auf die Straße: Für mich haben sie eine zentrale Verantwortung für die Entwicklung. Die Grünen sind in das rot-grüne Projekt als Korrektiv gewählt worden. Hartz IV ist unsozial und bedeutet für Ostdeutschland eine weitere Abkopplung, hat der ostdeutsche Grüne Werner Schulz gesagt. Seine Meinung ist aber die einer ungehörten Minderheit. Der Prozess ihrer Änderung ist zu weit fortgeschritten. Sie sind Bestandteil des politischen Machtkartells. Statt zu korrigieren, befinden sie sich in der Diskussion irgendwo zwischen dem „Hartz ohne Wenn und Aber“ der SPD und CDUlern, die alles noch verschärfen wollen.
Warum haben die Wähler im Saarland die Position der Grünen belohnt?
Haben sie nicht: Die einzige Partei, die zugewonnen hat, ist die Partei der Nichtwähler. Nur so kommt der Wiedereinzug zustande. Und er ist Resultat eines geänderten Selbstverständnisses der Grünen: Einerseits wenden sich immer mehr Anhänger ab, für die die Grünen einst ein Projekt der gesellschaftlichen Emanzipation waren. Andererseits werden die Grünen für viele Besserverdienende attraktiv und wählbar. Das Ergebnis im Saarland dokumentiert nur diese Verschiebung der Grundwerte.
INTERVIEW: NICK REIMER