: Wörter wie Glasmurmeln
Wenn Illusionen zerplatzen: Die Schriftstellerin Maike Wetzel beleuchtet Menschen, die sofort wieder im Dunkeln verschwinden. Versuch einer Annäherung anlässlich ihres neuen Buches „Lange Tage“
von SANDRA LOEHR
Manchmal passen die Bilder im Kopf einfach nicht mit denen der Realität zusammen. Man denkt: Das kann doch nicht sein. Dieser Mensch da soll die Geschichten oder den Roman geschrieben haben, den ich gerade gelesen habe? Im Kopf hat sich ein ganz anderes Bild des Autors geformt, dann revidiert man sein Bild, und manchmal kommen einem im Nachhinein auch die Texte ganz anders vor. Bei der Schriftstellerin Maike Wetzel ist das so, aber irgendwie auch nicht.
Auf dem Foto, das in ihrem ersten Buch, „Hochzeiten“, abgedruckt ist, sieht sie ein bisschen wie ein wahr gewordener Verlegertraum aus. Eine rothaarige und selbstbewusste Autorin lächelt einem da entgegen. Dazu passt, dass ihr erster Kurzgeschichtenband den Nerv der jungen deutschsprachigen Literatur traf und mit seinem knappen, lakonisch-melancholischen Stil die Feuilletonkritiker begeisterte. Das war 2000, und Maike Wetzel war gerade 26 Jahre alt. Doch schon davor, 1997, hatte sie als eine der jüngsten Preisträgerinnen den Bettina-von-Arnim-Preis bekommen. Danach folgten ein Literaturkurs beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt, 1999 der erste Platz beim Allegra-Literaturwettbewerb und 2000 ein Aufenthaltsstipendium am Literarischen Colloquim Berlin. Nebenbei studierte sie an der Hochschule für Film und Fernsehen in München, drehte Reportagen und Kurzfilme und schrieb für verschiedene Tageszeitungen und Magazine. Eine, die nah dran ist an der Wirklichkeit, und eine, die keine Innerlichkeitsprosa von sich gibt oder zurückgezogen im Elfenbeinturm residiert, sagen einem das Foto und der Lebenslauf.
Doch beim Lesen ihrer Geschichten macht man sich irgendwann ein ganz anderes Bild. Müsste eine, die derart trockene und schnörkellose Sätze über Menschen schreiben kann, die meistens mehr Brüche als wohlgeordenete Karrierehöhepunkte vorweisen können, nicht irgendwie anders aussehen? Trauriger, desillusionierter?
Wenn man Maike Wetzel dann gegenübersitzt, streicht man mit einem dicken Rotstift die beiden Bilder durch und muss sie durch ein ganz anderes ersetzen. Als Erstes fällt einem vor allem ihre zurückhaltende Art auf, die so gar nichts vom Klischee der selbstbewussten, smarten Gegenwartsautorin hat.
Unter all den redenden, lachenden und Kaffee trinkenden Menschen in dem Kreuzberger Café, in dem wir uns verabredet haben, wirkt sie viel schmaler und stiller als auf dem Foto und wie eine Studentin, die sich eher Gedanken wegen der Gliederung ihrer Magisterarbeit macht als darüber, wie wohl auf der Frankfurter Buchmesse ihr neues Buch aufgenommen wurde.
Und schon nach den ersten Fragen hat man sofort den Eindruck: Hier spricht keine, die gern über sich selber spricht oder die es genießt, im Scheinwerferlicht zu stehen. Sie hält lieber Abstand zum Medienbetrieb und vergisst während des Gesprächs nicht einen Augenblick, dass das, was sie jetzt sagt, für die Veröffentlichung in einer Zeitung bestimmt ist.
Aber je länger man sich mit ihr unterhält, desto mehr hat man das Gefühl, dass es nicht nur die Angst ist, zu viel von sich selber preiszugeben, sondern dass es ihr darum geht, auf jede Frage eine wirkliche Antwort zu geben, die nicht nur so einfach dahergesagt ist. Beim Antworten lässt sie sich Zeit und wendet die Wörter wie Glasmurmeln zwischen den Fingern hin und her, bevor sie sie dann vor einem auf den Tisch legt, und dabei ähnelt ihre kontrollierte und knappe Art zu sprechen dem Sprachrhythmus ihrer Texte, in denen sie der abgenutzten Sprache misstraut und nach etwas sucht, das hinter den Wörtern liegt. Ihre Geschichten, in denen sie oft kurze Szenen wie lauter Momentaufnahmen aneinander reiht, ohne psychologische Einfühlung in die Figuren zu betreiben, beginnen und enden unvermittelt und fast ein bisschen so, wie ein Scheinwerfer flüchtig eine Szenerie oder einen Menschen beleuchtet, die danach wieder im Dunkeln verschwinden.
„Die Personen in meinen Geschichten leiden darunter, dass sie sich nicht ausdrücken können. Dass sie nicht wissen, woran sie leiden“, sagt Maike Wetzel, und vielleicht kommen einem ihre Figuren deswegen so authentisch vor, weil man plötzlich spürt, dass das alles möglicherweise auch sehr viel mit ihr selber zu tun hat.
Für das neue Buch, „Lange Tage“, hat sie sich drei Jahre Zeit gelassen. Sie hat den Abstand gebraucht, sagt sie. In der Zwischenzeit ist sie nach Berlin gezogen und hat ihren Abschlussfilm gedreht, der auf einigen Festivals lief, und momentan arbeitet sie mit einem Stipendium im Künstlerhaus Ahrenshoop an der Ostsee an einem Drehbuch. Und waren es in „Hochzeiten“ noch mehr Geschichten, die von den Rändern der Gesellschaft erzählten, wie von Rosalie, der über 60-jährigen Currywurstverkäuferin, die ihren marrokanischen Freund in einem zu engen Brautkleid heiratet, oder von Lou, die auf einer Pflegestation dahinvegetiert, sind es in ihrem neuen Buch größtenteils Geschichten über die Zeit zwischen Kindheit und Erwachsensein, die ihren Figuren zu schaffen macht.
Ein Mädchen, das sich fast zu Tode hungert, ein Teenager, der eine Abtreibung hat, oder eine Studentin, die nach dem Tod ihres Vaters nach Berlin zieht, auf die Schauspielschule geht und nach einem Streit mit der Direktorin alles hinschmeißt. Die Figuren straucheln über die Fallstricke des Lebens und vor allem über die des Erwachsenwerdens.
Eine Spanne, die Maike Wetzel sehr wichtig findet: „Das ist eine Zeit, wo Illusionen zerplatzen und Identitäten wegbrechen und wo man sich neu erfinden muss.“ Etwas, was sie durchaus kennt, sagt sie, und man glaubt es ihr sofort.
Maike Wetzel: „Lange Tage“. Erzählungen. 189 Seiten, Collection S. Fischer, Frankfurt 2003