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Archiv-Artikel

hidden modernism Der Blick auf das Proletariat im unteren Deck der „Kaiser Wilhelm II“

Eigentlich ist „Pictorialism. Hidden Modernism – Photography 1896–1916“ in der Galerie Kicken mit rund 40 Fotografien eine kleine Ausstellung. Da aber wenigstens ein Viertel davon kanonische, in allen einschlägigen Standardwerken publizierte Werke sind, handelt es sich eindeutig um eine große Schau. Wer hätte gedacht, dass Frank Eugenes berühmte Aktstudie „Adam and Eve“ (1898–99) noch käuflich zu erwerben ist? Oder „Untitled (Behind the Scenes)“, Robert Demachys Balletttänzerin von 1897, die wie eine der Danseusen von Edgar Degas ausschaut? Auch Hugo Erfurths Porträtstudie seiner Frau, „Mädchen unterm Rosenbaum“ (1904), gar nicht zu reden von „The Steerage“ (1907), dem Blick auf das Proletariat im unteren Deck der „Kaiser Wilhelm II“, das Alfred Stieglitz in das ikonische Fotogemälde vom großen Drama der Auswanderung nach Amerika verwandelte? Die Frage ist umso berechtigter, als es sich bei den Fotografien des Pictorialism, die hierzulande unter Kunstfotografie um 1900 oder Jugendstilfotografie firmieren, nicht um simple Fotoabzüge, sondern um aufwendige, teure und einzeln angefertigte Drucke handelt. Es braucht schon Rudolf Kicken, den weltweit vernetzten Fotospezialisten, um eine solche Schau zusammenzutragen, in der dann die Qualitäten der lange verkannten Kunstfotografiebewegung ohne Weiteres deutlich werden. Ziel der Bewegung war es, der Fotografie ihren Platz neben der Malerei zu erobern, indem die Lichtbildner zeigten, dass sie weit mehr zu leisten imstande waren, als nur eine detailgetreue Wiedergabe der Wirklichkeit zu liefern. Zu diesem Zweck arbeiteten sie mit Unschärfen, mit selektiver Belichtung zur Betonung der Bildebenen, mit Farben, Retusche, kostbaren, schweren Papieren und Leinwänden. Entsprechend gaben sie sich in ihren Motiven und deren Ausarbeitung als kunstinformierte Zeitgenossen der Impressionisten und Symbolisten zu erkennen. Gleichzeitig aber spielten ihre hervorragenden Vertreter auch die Stärken ihres realitätstüchtigen und wenig traditionslastigen Mediums aus und kamen zu ganz neuen, zukunftsweisenden Bildfindungen. Dafür steht vor allem „The Steerage“, das Bild „der gewöhnlichen Leute“ auf dem Unterdeck, das für den Erste-Klasse-Passagier Alfred Stieglitz, wie er bekannte, „Leben“ bedeutete und „eine Befreiung“: „… that I was away from the mob called the rich.“

BRIGITTE WERNEBURG

„Pictorialism. Hidden Modernism – Photography 1896–1916“. Bis 18. April, Galerie Kicken, Linienstr. 155, Di.–Sa. 14–18 Uhr, limitierter Katalog 30 €