BERNHARD PÖTTER über KINDER : Eine Familie von Superhelden
Lange hatte ich Kryptonit vor den Augen, aber jetzt ist mir klar: Ich lebe mitten unter den Fantastischen Vier
Helden sieht man inzwischen ja wieder an jeder Ecke. Die Helden von Bern, die Antihelden von Portugal, den Bestseller „Helden wie wir“, die Berliner Popband Wir sind Helden, Helden des Alltags. Vielleicht ist das die Kehrseite von Hartz IV und dem allgemeinen deutschen Kater, der sich die schlechte Stimmung nicht mies machen lässt. „Unglücklich das Land, das Helden nötig hat“, lässt Bertolt Brecht die Hauptfigur im „Leben des Galileo“ sagen.
Und deshalb habe ich mich auch lange gegen die Erkenntnis gesträubt: Wir sind Superhelden.
Ich kann Ihnen sagen, das war ein Schock. Erschüttert saß ich mit Baby Stan in der Küche auf dem Fußboden und fühlte mich wie Tobey Maguire, als er merkt, dass er so anders ist als die anderen. Denn mir war gerade klar geworden: Ich lebe inmitten der Fantastischen Vier. Vielleicht bin ich sogar der Fünfte.
Angefangen hat alles mit Stan. Er ist die Reinkarnation von Spiderman. Stürzt sich ohne Nachdenken in die tiefsten Abgründe. Und bleibt immer kurz vor dem Boden irgendwo hängen. Er klettert an unmöglichen Vertikalen aufwärts. Er trägt lächerliche Kostüme. Seine Hände haften vor allem nach dem Verzehr von Reiskeksen verlässlich auch an der glattesten Oberfläche. Er huscht auf seinen acht Beinen (Füße, Knie, Ellbogen, Hände) durchs Zimmer. Er besabbert und verdaut sein Essen außerhalb seines Körpers.
„Ich bin Batman“, sagt Jonas ganz offen. Seine Insignien prangen auf Unterhose und Unterhemd. Fledermäuse findet er obercool. Er schwingt sich am Seil aus dem Hochbett, schlägt seinen Handtuch-Umhang zurück, setzt sich seine Maske auf und sorgt in den Straßen von Gotham City für Ruhe und Ordnung. Kleiner Schönheitsfehler: Er liebt Pinguine.
Tina ist Supersonic Girl. Schneller als der Schall ist sie zur Stelle, wen irgendwo das Schokoladenpapier raschelt. Wenn sie ihre markerschütternde Stimme erklingen lässt, fliehen alle Ganoven, Eltern eingeschlossen. Die Fensterscheiben bersten. Ihr Charme, ihr durchtrainierter Körper und ihre blonden Haare lassen allerdings im Normalfall die bösen Jungs dahinschmelzen, ehe es zu Kämpfen kommt.
Und natürlich ist Anna Superwoman. Sie hat den Röntgenblick, mit dem sie auch aus dem Wohnzimmer sieht, wer gerade die nassen Schwämme aus der Badewanne wirft. Mit dem Mikrowellenfinger kann sie die Babynahrung erhitzen. Sie hört das Gras wachsen und die Flöhe husten. Und sie fliegt von hier nach dort. Oft sogar mit Spiderman und Supersonic Girl huckepack.
Und ich? Bin wohl eher Clark Kent. Der immer durch seine dicken Brillengläser in die Gegend schaut und nur die Hälfte mitbekommt. Und der nicht rechtzeitig die Welt retten kann, weil er in den Zeiten der Handys einfach keine Telefonzelle zum Umziehen gefunden hat. Und weil diese verdammte Strumpfhose so im Schritt kneift.
Die Welt retten müssen wir trotzdem. Denn Superhelden wie wir sind die letzte Chance für dieses Land. Diesen Eindruck hat man zumindest in den Debatten um die Reformen in Deutschland. Auf die Fantastischen Familien warten große Herausforderungen: Die Geburtenrate lustvoll nach oben stemmen, die Defizit-Dämonen in die Flucht schlagen, das Rentenkassen-Monster auf den Mond schießen, der Bürokratie-Schlange die Köpfe abschlagen, die Schul-Schurken entlarven und hinter Gitter bringen. Und alles mit unseren übernatürlichen Superkräften: Indem wir Superkinder in die Welt setzen, mutationsmäßig Geld verdienen, übersinnlich Geld ausgeben, extragesund leben und unseren Kindern abends auch noch das Helden-Abc beibringen.
Die Geschichte wird unendliche Episoden und dauernde Fortsetzungen haben. Auch ein paar Wiederholungen sind geplant. Wir müssen uns nur vom Kryptonit fern halten und aufpassen, dass wir uns nicht übernehmen. Denn auch Superhelden werden müde. Manchmal sogar amtsmüde. „Papa, ich will nur noch schlafen“, murmelt Jonas, als er abends auf sein Batman-Kissen sinkt. „Ich bin jetzt nur noch Bettman.“
Fotohinweis: BERNHARD PÖTTER KINDER Fragen zu Superhelden? kolumne@taz.de MORGEN: B. Bollwahn über ROTKÄPPCHEN