sparsam in neukölln: geiz muss ungeil werden : „Kacke lang“ für 2,45 Euro
Hier ist Harry Potter nie vorbeigekommen. Dabei würde der Lehrling beim „Zauberkönig“ im hinteren, konsequent verarmten Berlin-Neukölln sicher Brauchbares finden. In dem Flachbau unter der Einflugschneise zum Flughafen Tempelhof residiert das älteste Geschäft in Sachen Spaß und Unterhaltung. Im Schaufenster macht man aus Hundescheiße zwar kein Gold, versucht sich aber im Geschäft mit der simulierten Realität und verkauft verschiedene Plastilinkotversionen. Eine „Kacke lang“ für 2,45 Euro, billiger ist die „Kacke klein“. Im hochpreisigen Designerkackesegment bietet man Aschenbecher und Stifthalter.
Wer weiter nach Neukölln reinfährt – in einen Bezirk, der auf dem Boden riesiger ehemaliger Soldatenfriedhöfe steht –, kann auf einem der alten Friedhöfe eine Baustelle des Bildhauers F. besuchen und seine Zukunft planen. Der Berliner baut hier mit drei Maurern aus dem östlichen Meck-Pom, die seit der Wende Lidl-, Aldi- und Norma-Märkte hochziehen, eine lange, fünfstöckige Grabwand für zirka 250 Grabkammern mit jeweils maximal vier Urnen. Der Bildhauer, ansonsten eher im Abstrakten tätig – so realisierte er einen begehbaren Riesengranit im Hof des Konrad-Zuse-Instituts der FU, in den sich Mathematiker zur Kontemplation zurückziehen –, hält sich sonst mit öffentlichen Brunnenbauten über Wasser. Bei dem Friedhofsprojekt verkalkulierte er sich kräftig. Weder hatte er eingeplant, diverse Fuhren Fertigbeton selbst holen zu müssen (den Kubikmeter zu über 60 Euro), noch hatte er geahnt, dass Beton so schwer wiegt (der Kubikmeter rund 2,1 Tonnen), und auch nicht, dass er einen Radlader und den Bulli seines Galeristen ausleihen musste, weil sein Volvo kaputtging.
Auch wenn bei der Aktion nichts rumkommt, bei Berlins Überalterung kann er auf Anschlussaufträge hoffen. Am Kottbusser Damm, der Grenzlinie zwischen Kreuzberg und Neukölln, hat leider das kleine Internetcafé-Callcenter geschlossen, wo man billig ins berüchtigte Bulgaristan telefonieren konnte. Dafür hat das grellgrüne Sonnenstudio einen Spruchtrend aufgeschnappt und wirbt mit: „Sonne satt, Geiz geil“. „Ihr Sonnenstudio“ hat eine Digitaluhr mit Temperaturanzeige – im Winter ein echtes Argument. Wenn man jemanden anwirbt, der für 50 Euro eine Sonnencard erwirbt, bekommt man 10 Euro. Diese Art des Schneeballsystems, das man von Zeitungsabos kennt, breitet sich aus. Die Fitnesskette Elixia schenkt einem einen Monat Schinderei bei Anwerbung eines unförmigen Neukunden.
Zudem breitet sich in Berlin ein Geizmulti aus wie nix: die unsympathische blau-gelbe Lidl-Kette. Herr Schwarz aus dem Schwäbischen hat den Namen Lidl übrigens für ein paar Mark einem kleinen Laden abgekauft – seine Discounts sollten nicht Schwarz-Markt heißen. Gern knöpft sich der aggressive Lidl die fotoscheuen Aldi-Brothers vor und nistet sich in kürzester Entfernung ein. Wirkliche Fachgeschäfte gibt’s kaum noch, auch weil Leute mit Knete mit dem Mercedes zum Discounter fahren. Sparen muss uncool werden, sonst ist Deutschland für immer im Eimer!
Eine Freundin, die deutschen Arbeitslosen Holländisch beibringt und nebenbei Holländerliteratur übersetzt, bringt inzwischen nicht mehr nur Handwerkern, sondern sogar jungen Zahnärzten die Sprache bei, damit diese wiederum Holländern vor Ort den Überbiss korrigieren können. Eine Zahntechnikerin, Anfang 50, erzählte unlängst im Bioladen (der jetzt seine Fußmatten abgeschafft hat, um zu sparen), dass sie demnächst wieder nach Indien fahre. Dort arbeitet sie in ihrem alten Beruf und leitet Einheimische beim Gebissbau an. Man solle seinen Zahnarzt ruhig einmal fragen, wo der Zahnersatz herkommt.
Ein Steuerfahnder, den wir einmal auf Kreta kennen lernten, erzählte begeistert von Razzien in Zahnarztpraxen, bei denen man kiloweise Gold beschlagnahmte, das als Schwarzgeldersatz fungierte. Beim jetzigen Goldpreis keine schlechte Geldanlage. ANDREAS BECKER