: Tief Luft holen!
Mit jedem Atemzug tankt unser Körper Energie. Doch viele Menschen atmen falsch. Durch Atemtherapie, Sauerstofftherapie oder Yoga kann richtiges Atmen erlernt werden. Das hilft nicht nur beim Entspannen. Auch chronisch Kranke profitieren
VON JULIA JOHANNSEN
„Reißen Sie beim Gähnen so richtig den Mund auf“, empfiehlt Silvia Stadtmüller. „Gähnen ist Atemtherapie in Miniformat“, sagt die Atempädagogin. Beim Gähnen geschieht Folgendes: Der Körper nimmt mehr Sauerstoff auf, die Atmung vertieft sich. Die Augen werden feucht, durch die Bewegung des Unterkiefers entspannen sich Mund, Nacken und Hals.
Die Atmung ist normalerweise unbewusst. Oft wird sie nur in besonderen Situationen wahrgenommen, wie bei körperlicher Anstrengung oder psychischer Anspannung. Doch der Atem fließt stetig in seinem Rhythmus: Einatmen, Ausatmen, Atemruhe. Er bringt die Stimmbänder zum Tönen und versorgt den Organismus mit Sauerstoff. Atmet jemand jedoch zu schnell oder flach, gelangt zu wenig Sauerstoff in den Körper, und Schadstoffe können beim Ausatmen nicht ausgestoßen werden. Die Folge: Müdigkeit, Anspannung und Schwächung des Immunsystems. „Richtiges Atmen ist eine Schwingung, die vom Zwerchfell ausgeht und sich wie eine Welle im ganzen Körper ausbreitet“, beschreibt Christa Camerer, Leiterin des Atem Centrums Berlin.
Der Kranke atmet mit dem Hals, der Weise mit dem großen Zeh, lautet ein chinesisches Sprichwort. Bleibt die Atmung im Hals und Brustkorb stecken, ist sie flach. Breitet sie sich im Bauch und im ganzen Körper aus, bestenfalls bis hin zum großen Zeh, ist sie tief. Richtig Atmen bedeutet, langsam, tief und ruhig zu atmen. Viele Menschen atmen paradox: Sie ziehen beim Einatmen ihren Bauch zusammen. Korrekt ist es umgekehrt: Beim Einatmen füllt sich der Bauch mit Luft, die Muskeln spannen sich an, das Zwerchfell senkt sich. Beim Ausatmen zieht sich der Bauch zusammen, die Muskeln entspannen sich, das Zwerchfell hebt sich. In der Atemruhe, die zwischen Ausatmen und neuem Einatmen liegt, regenerieren sich Muskeln und Körper. Auch die Körperhaltung hat eine unmittelbare Wirkung auf die Atmung. Wer gekrümmt sitzt oder geht, kann nicht mehr so tief und entspannt atmen. Je aufrechter die Wirbelsäule und die gesamte Körperhaltung, desto tiefer die Atmung. Durch bewusstes und tiefes Atmen verbessert sich langfristig auch die Haltung.
Verschiedene Atemlehren bieten Techniken, um die Atmung kennen zu lernen oder zu kontrollieren. Autogenes Training versucht es durch Gedanken: „Mein Atem ist ganz ruhig.“ In der Meditation konzentriert man sich auf das Ein- und Ausatmen. Im Yoga ist die Atmung kombiniert mit Körperhaltung und Bewegung. Die Dehnbarkeit der Muskeln wird nicht allein durch Kraft erzielt, sondern auch über die bewusste Atmung oder Atemtechniken, bei denen der Körper besonders viel Sauerstoff aufnehmen kann. Die so genannte Sauerstofftherapie führt Patienten mit chronischen Krankheiten künstlich Sauerstoff zu, zum Beispiel durch Inhalation. Der abgesunkene Sauerstoffgehalt im Blut wird dabei auf das normale Niveau angehoben, gleichzeitig wird der Kohlensäuredruck im Blut abgesenkt. Die Sauerstofftherapie gibt es seit rund 200 Jahren, sie wird bei vielen chronischen Krankheiten wie Asthma, Immunschwäche oder Migräne angewandt.
Die Atemlehre nach Ilse Middendorf betrachtet den Atem als Spiegel des eigenen Befindens. Ziel des „erfahrbaren Atems“ ist es, den natürlichen Atemrhythmus zu spüren, ohne ihn zu beeinflussen. „Durch die Wahrnehmung des Atems können ungeahnte Kräfte zum Tragen kommen“, sagt Camerer. Die Atempädagogin behandelt unter anderem Schlaganfall- und Koma-Patienten. „Bei Menschen mit chronischen Erkrankungen ist der eigene Atemrhythmus fast immer massiv aus dem Gleichgewicht geraten“, weiß die Therapeutin, die Hand in Hand mit Medizinern arbeitet. Praktische Dehnübungen, das Tönen von Vokalen oder Handauflegen helfen den Patienten, ihren Atemrhythmus ins Gleichgewicht zu bringen. Ist der Atem ruhig und bewusst, wird die Selbstheilungskraft des Körpers gestärkt und körperliche Verspannungen können sich lösen. „Der Atem ist das Heile und Gesunde in uns“, erklärt Camerer. In der altindischen Sprache Sanskrit bedeutet Atem „atma“, was übersetzt wird mit „Seele“.
Weitere Infos unter www.erfahrbarer-atem.de und beim Zentralverband der Ärzte für Naturheilverfahren www.zaen.de. Infoveranstaltungen zum „erfahbaren Atem“ am 19. 11., 17–20.30 Uhr und am 20. 11. 2004, 10–14 UhrKontakt: www.atemcentrum.de