: Ein Adventskalender voller Leben
In vier Berliner Kiezen gibt es ihn schon, den „lebenden Adventskalender“. Anders als bei der Schokoladenvariante wird hier jeden Tag eine echte Tür geöffnet. Mal für eine, mal für zwei Stunden. Man trifft sich zum Reden, Teetrinken, Basteln, führt Zufallsgespräche. Und staunt, dass das geht
von WALTRAUD SCHWAB
Dienstag, den 2. Dezember, um 19 Uhr bei Annelie Freund, Pastorin
„Kommen Sie rein“, sagt die Pastorin der Zionskirche. In ihrem spartanisch eingerichteten Wohnzimmer sitzen sechs Leute rund um den ovalen Tisch. Sie unterhalten sich über das Bergische Land. Eine der Anwesenden allerdings ist sich nicht sicher, wo das genau ist. „Bei Wuppertal.“ „Ach so, schöner Name“, sagt die Unkundige, „Wuppertal, das ist für mich Else Lasker-Schüler.“ Richtig wahrgenommen wird sie nicht, den Lokalpatrioten kocht das heimische Herz. Ihre Sätze fangen mit „Weißt du noch“ an.
Die Pastorin schenkt derweil Tee ein, schneidet ein Stück Käse in mundgerechte Happen und schiebt diese über den Tisch, auf dem zudem Büchsen mit Konfetti-Sternchen, Vogelsand und Glimmerstaub stehen. „Bei uns werden Weihnachtspostkarten gebastelt“, sagt sie und zeigt auf die verschiedenen Motive, die neben den Gesprächen über den kalten Wind, der mitunter über die längst verlassene Heimat fegt, entstanden sind.
„Wo kommen Sie denn her?“, fragt die Pastorin die neu Angekommene, um Integration bemüht. „Baden“, antwortet die. „Ach, das verstärkt diese Fraktion“, antwortet sie und zeigt auf die Wuppertal-Unkundige und Lasker-Schüler-Begeisterte. Die komme auch aus dem Süden. Dabei nimmt die Pastorin ein Stück doppelseitiges Klebeband, klebt es auf einem Stück farbigem Papier fest und streut Sternchen und Glimmer darauf. Genial ist das Bastelprinzip, das Fremde zu MitmacherInnen macht. „Was hat Sie nach Berlin verschlagen“, wird die Badenerin gefragt. „Die Sehnsucht nach Distanz“, antwortet sie. „Ja, das geht vielen von da unten so“, sagt einer aus der Bergischen-Land-Fraktion. Die Pastorin streut Vogelsand auf das Klebeband ihrer Postkarte, klopft alles, was nicht fest ist, ab und ist fertig. Schön sieht die Karte aus. Glänzend und glitzernd.
„Neulich saß ich sechseinhalb Stunden im Zug nach Freiburg, nur weil es dort keinen Flughafen gibt“, sagt ein Gast indigniert. Die Badenerin findet eigentlich nicht, dass das ein Grund sei, sich zu entrüsten. Sie erinnere sich noch an Zeiten, als es 14 Stunden dauerte. Auf diese Weise bekommt das Gespräch endlich die so genannte Bundesbahn-Wendung. Diese ist so viel versprechend, variations- und anekdotenreich, dass die Kurzweil für den Rest der Zeit, die die Tür offen bleibt, gesichert ist.
von FRANZA ZELLER
Freitag, den 5. Dezember, um 18.45 Uhr bei Annette und Daniel Sprenger
Mit einem selbst gebastelten Stern sollen die Besucher durch die Tür des lebenden Adventskalenders im Wedding treten. Die meisten kommen mit leeren Händen. „Das ist okay. Es geht um Begegnung und nicht um Zwang“, sagt einer der zwei Hand voll Gäste, die sich im ebenerdigen Büro der Landschaftsarchitekten Sprenger eingefunden haben. Rund um den Tisch sitzen sie bei Keksen und Tee. Ein paar Kinder sind auch da. Emil heißt der Zweieinhalbjährige, der möchte, dass sein Name überall hingeschrieben wird, damit er so tun kann, als lese er ihn.
Die meisten Adventsgäste wohnen hier im Block, einer Siedlung der Berliner Bau- und Wohnungsgenossenschaft von 1892. Wohnungen für ArbeiterInnen waren das. Ursula Kunde, die Hauswartsfrau, ist gekommen. Auch ihre gleichaltrige Freundin ist da. Die beiden sind hier geboren. Wie Karin Baal. „Die Schauspielerin. Die ist doch mit dem Horst Buchholz in ‚Die Halbstarken‘ berühmt geworden.“ Mit ihr zusammen sind Kunde und ihre Freundin zur Schule gegangen. „Aber davon will die nichts mehr wissen.“ Jemand am Tisch sagt: „Hochnäsige Zicke.“ Kundes 91-jährige Mutter, die ebenfalls hier ist, war es nicht. Sie hat eine Zeit lang als Putzfrau im nahen Robert-Koch-Institut gearbeitet. Stundenlang mussten sie Glasröhrchen sauber machen und abkochen, erzählt sie. „Alles per Hand.“
Die drei Frauen jedenfalls können Geschichten erzählen vom Block. Dass im Büro der Landschaftsarchitekten mal ein Schneider war zum Beispiel. „Der hatte Hühner im Keller. Später war dann ein Zigarettenladen drin. War ja wie ein Dorf hier.“ 600 Leute, wird geschätzt. Mit Bäckerei und einem Festsaal. Heute ist das der „Lindengarten“. Die Frauen denken mit Wohlwollen an die Lokalität. Schließlich haben sie sich dort in Dingen wie Flirten, Liebäugeln und Knutschen geübt.
„Und im Krieg?“, fragt jemand die Hauswartsfrau und gibt dem Gespräch eine ernste Wendung. Aber da war Ursula Kunde noch klein. „So alt wie Emil“, sagt sie. Der kritzelt mit einem Kugelschreiber auf jedes Stückchen Papier. „Du malst Gespenster“, sagt eine Besucherin. Bei ihm bleibt „Spenster“ hängen. Es ist wie ein Stichwort für Kunde, die auch heute noch Panik kriegt, sobald sie eine Sirene hört. „Es könnten Bomber sein.“
von GRIT EGGERICHS
Mittwoch, den 10. Dezember, um 17.30 Uhr bei Familie Gerstmann
„Dit lohnt schon, sich ins Mietrecht einzuarbeiten.“ Frank Gerstmann liegt fast in seinem blauen Kunstsamtsessel. Die Beine übereinander geschlagen, Hände vor dem Bauch gefaltet, am Fuß schlenkert die Biosandale. Er redet gern.
„Ich greif einfach mal zu.“ Der einzige Gast, eine junge Frau, sitzt kerzengerade auf dem Sofa, hört zu und nimmt sich eine Scheibe Stollen. Auf dem Couchtisch rotieren erzgebirgische Kamele. Am Fenster hängt orange leuchtend ein Weihnachtsstern aus Herrnhut.
1989 ist Gerstmann mit Frau und drei Kindern in die 200 Quadratmeter große Wohnung in Mitte gezogen. Eine alte Dame wohnte noch in einem der Säle.
Renoviert hat die Familie selber: Tapeten angeklebt, gemalert, eine Heizungsanlage eingebaut. Monate hat das gedauert. Dann kam die Wende und der neue alte Eigentümer: ein Herr, 88 Jahre alt, der das Haus an eine Westberliner Immobilienfirma verkaufte.
Wenn man heute vor die Haustür tritt, sieht man Kneipen und schicke Läden. Ein paar Schritte weiter steht die Synagoge. „Die Bevölkerung hat sich nach der Wende komplett ausgetauscht.“ Gerstmanns blieben. Dank durchwachter Nächte über Gesetzestexten und Anwaltsschreiben. Ihre Wohnung haben sie gegen jeden Sanierungsversuch erfolgreich verteidigt.
Frau Gerstmann „fühlt sich heute nicht so“ – ihr Mann muss selber Malventee nachschenken. „Ich steck da nicht so drin“, sagt er. Herr Gerstmann teilt mit, dass er kein Hausmann ist.
Der Tee kommt aus Ägypten, wo Gerstmanns gerade Sommer und Exotik genossen haben. „Dit is schon ein Spaß gewesen, da auf dem Markt die Preise auszuhandeln“, erzählt er. Die Ägypter feilschen gerne. Und wenn jemand mit ihm handeln will, dann macht Gerstmann als guter Sportsfreund mit. „Auch wenn’s mir am Ende egal ist, ob ich für den Tee einen Euro siebzig bezahle oder eins fünfundachtzig.“ Nicht ganz egal ist, ob man zu Hause für jeden einzelnen Quadratmeter vier oder acht Euro zahlen soll. Gerstmann geleitet seinen Gast zur Garderobe. Der Flur ist eine lange Bahn, Auslegware mit Parkettmuster liegt drauf, die Kinder haben hier Fahrradfahren gelernt. Jetzt sind sie fast erwachsen, Vater Gerstmann rüstet sich für den nächsten Prozess.
von GRIT EGGERICHS
Donnerstag, den 11. Dezember, um 18 Uhr bei Tina Klotzek
Nur im Januar lebt Tina Klotzek ihre pyromanischen Züge aus, sagt sie. Dann nämlich zerkleinert sie den Weihnachtsbaum, stopft ihn durch die Klappe, macht Feuer und hört dem Prasseln zu. Jetzt brennen auf dem Sims des alten Kachelofens Kerzen. Aus der Küche hört man das Geräusch der anspringenden Therme. Klotzeks haben Gasheizung. Der Ofen bleibt an 364 Tagen im Jahr kalt.
Sonst ist alles schön warm bei Frau Klotzek. Kerzen leuchten auch von den Regalen. Darin stehen die Bücher der Größe nach geordnet. In der Küche liegt die Katze im Korb und Frau Klotzek kocht frischen Tee für ihre drei Gäste. Von hier aus kann man auf eine Grünpflanze in der Küche von Joseph Fischer gucken – wenn man will. „Ich bin nicht so …“, fängt Frau Klotzek an, „wie soll ich sagen. Nicht so redselig.“ Sehr freundliche dunkle Augen hat sie. Beim Lächeln zeigen ihre Mundwinkel nur andeutungsweise nach oben. Etwas aufgeregt sei sie, wegen des Besuchs.
Dieses Jahr hat sie es zum ersten Mal rechtzeitig geschafft, ihre Tür für den „lebendigen Kalender“ anzumelden. Im Wohnzimmer schenkt sie den drei Gästen Tee aus einer filzgewärmten Kanne ein. „Reichspatent“, bemerkt sie. Die Sofas und der Sessel leuchten rot.
Die Tür zum Flur ist hellgrün, die Farbe an manchen Stellen abgeplatzt. Ein eigenwilliger Kontrast zu den blendend weiß gestrichenen Wänden und der heiligen Ordnung in der Wohnung.
Barbara Lehmann hat sich mit ihrer Tasse zurückgelehnt. Eine schmale Frau mit rot getöntem Haar. Sie soll den lebenden Adventskalender erfunden haben. „Das stimmt nicht“, sagt sie, „alle wollen immer, dass ich es war.“ Die Idee hat sie aber mitgebracht. In ihrer Heimatgemeinde in Halle an der Saale ist es schon lange üblich, zur Adventszeit echte Türen zu öffnen.
Frau Karge sitzt da im weißen Zopfpullover, mit beigem Seidentuch und Brosche. „Waren Sie Montag da?“ Durch ihre große Brille sieht sie die Gastgeberin an. Sie meint die Weight-Watchers-Gruppe. Frau Karge geht da seit schon seit zweieinhalb Jahren hin. Frau Klotzek erst seit kurzem – mit ihrem Mann. „Er ist etwas zu schwer“, erklärt sie und beißt in einen Lebkuchen. Sie sei da nicht so.
Der Gatte hat schon abgenommen. „Neulich beim Kegeln rutschte die Hose.“ Bei Männern geht das rasant, sagt Frau Karge.